Neulich war ich in Berlin und hatte mich mit einer Freundin in Moabit verabredet. Als ich wie immer viel zu früh da war und schon in der Nähe des Restaurants wartete, erregte ein kleines Kästchen auf meiner Karten-App meine ganze Aufmerksamkeit: Ein polnischer Supermarkt. Keine 5 Minuten Fußweg entfernt. Zeit genug, um während der Öffnungszeiten vorbeizuschauen.
Ich betrat den Laden, der so klein war wie ein Kiosk, aber eine große Tiefkühltruhe mit Pierogi, eine Fleischtheke und mehrere große Kühlschränke hatte. Mein Kopf dachte, wenn auch nur für einen Moment, dass ich ein paar hundert Kilometer weiter östlich war. Nicht mehr in Berlin, sondern zu Hause. Obwohl es das erste Mal war, dass ich den Laden betrat. Zum ersten Mal roch, wie dieser Laden roch. Wonach es roch. Ich ging durch die Tür und wusste es sofort.
Zuhause.
Das Gemüse ist anders, es riecht anders, es schmeckt anders. Es sieht vielleicht genauso aus wie im deutschen Supermarkt nebenan. Aber es ist polnisch. Wenn du an der kleinen, aber vollen Fleischtheke vorbeigehst und die Schinken und Würste siehst, die Pasteten und Sülzen, das Fleisch in Aspik. Es riecht polnisch, es ist polnisch. Am Eingang stand ein kleiner runder Zeitungsständer auf Rädern mit den üblichen Frauenzeitschriften und einer Auswahl an Kreuzworträtselheften. Ob meine Polnischkenntnisse jemals für ein polnisches Kreuzworträtsel ausreichen würden?
Auf der erwähnten Fleischtheke lagen Bonbons, Kaugummis mit einem undefinierbaren, aber einzigartigen Geschmack und die kleinen Butterkekse “bebe”, hauchdünn und zu je 5 Stück verpackt. Jedes Butterplätzchen kaum größer als eine Briefmarke. Und natürlich die Krówki, kleine, zähe Karamellbonbons, in gelbes oder auch rotes Papier gewickelt, die man hier nur lose, in Polen aber auch in 1 kg-Beuteln kaufen konnte.
Überall, wo noch Platz war, standen Regale mit Nudeln, Chips und Eingemachtem. Gurken, Sauerkraut, Rote Beete und verschiedene Salate.
Tief in meinem Inneren fühlte ich eine große Vertrautheit. Meine Gedanken flossen mit einer Leichtigkeit, ohne Schluckauf auf dem Weg vom Kopf zur Zunge.
Im Kühlregal sieht man die Flaschen mit Kefir, Kefir viel dickflüssiger und schmackhafter als das, was man hier aus den Supermärkten kennt. Quark, bei uns eher körniger Frischkäse, in drei verschiedenen Fettstufen. Da ich noch einige Stunden unterwegs sein würde, wusste ich, dass ich keine verderblichen Lebensmittel kaufen konnte, auch wenn mein Interesse groß war.
Milch, die noch zu Hause auf dem Herd erhitzt werden muss, bevor sie bedenkenlos getrunken werden kann. Milch in rechteckigen Plastiktüten. Diese kleinen Säckchen gibt es immer seltener, denn die Globalisierung hat auch Polen erreicht und auch hier wird Milch meist nur noch pasteurisiert verkauft. Dann aber häufiger in Plastikflaschen als wie hier in Tetrapacks. Und doch...
Du weißt, wo du bist. Zuhause.
Als ob sie den ganzen Laden, Ziegelstein für Ziegelstein, Metallschrankboden für Metallschrankboden, aus einem polnischen Ort hierher geschleppt hätten. Mit Leuten, die auch so eine kleine Delle am Oberarm haben, so wie du vielleicht, wo du dich gefragt hast, warum die anderen Kinder in der Schule das nicht haben. (Anmerkung: Laut Internet bekommt man eine solche Narbe von einer Pockenimpfung, die es laut Internetrecherche mittlerweile in vielen Ländern (nicht mehr) gibt).
Mein Blick fiel auf die Getränke und ich griff nach einer großen Flasche Sprudelwasser aus Polen. Für viele mag es übertrieben sein, ein Wasser zu kaufen, das es auch hier gibt, nur weil es aus Polen kommt und eine polnische Marke ist. Aber es ist so viel mehr. Polnische Quellen, die in den Beskiden, aber auch in den Tatra-Gebirgen entspringen. Typisch polnische Kurorte. Die weiter westlich gelegenen wurden zum Teil schon während der deutschen Besatzung und der polnischen Teilungen zu Kurorten.
"Co mogę pani podać?" und deine Gedanken sind nicht mehr verklebt. Du musst keine Wörter umschreiben, keine fremde Grammatik aufzwingen, keine Buchstaben überspringen, die gar nicht ausgesprochen werden.
Es hat mich nicht einmal gestört, dass ich von der Person an der Kasse mit einer weiblichen Anrede angesprochen wurde. Im Polnischen ist alles noch ein bisschen komplizierter als im Deutschen, weil wir auch die Verben gendern. Das ist ähnlich wie in Spanien oder Italien. Vielleicht macht es mir nichts aus, weil ich gedanklich in einer anderen Welt war, gedanklich in einer Welt, in der mir Themen wie Gender und seine Konstruktion noch nicht bewusst waren und mein sprachliches Coming Out vielleicht noch bevorsteht.
Nachdem ich bezahlt und den Laden verlassen habe, öffne ich die Flasche Wasser und bin für einen Moment nicht mehr in Berlin. Sondern irgendwo in meinem Kopf. Auf den Straßen meiner alten Heimat.
Zuhause kann für jeden etwas anderes bedeuten. Für mich war es vor allem das Essen und die Sprache. Zuhause zu sein in meinen eigenen Gedanken, auch wenn ich nicht immer den ganzen Wortschatz anderer Sprachen zur Verfügung habe. Denn das sind bisher die einzigen Konstanten in meinem Leben, die etwas mit Herkunft zu tun haben, die mich mit mir selbst verbinden. Dennoch frage ich mich immer öfter, wie viel Bedeutung ich ihnen noch geben kann oder will. Fragen, auf die ich noch keine Antworten gefunden habe.
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