Wer oder was bin ich für dich? Und für mich selbst?
Von Annäherung und Ablehnung einer Kategorie, von Etikettierungen und dem Umgang mit Fremddeutungen in Räumen der Scham
Seit ich meine Haare so kurz trage, und das ist jetzt schon über zwei Jahre her, werde ich öfter misgendert. Wobei misgendern vielleicht nicht das richtige Wort ist. Denn es tut mir in diesen Zusammenhängen nicht weh. Lass es mich erklären: Damals, im ersten Jahr mit diesen Haaren, noch mitten in der Corona-Pandemie, mit Mundschutz und zu dieser Jahreszeit auch noch in grober Lederjacke, wurde ich im Supermarkt sehr oft mit “junger Mann” angesprochen.
Meine jugendlichen Gesichtszüge in Verbindung mit meinem Kleidungsstil führten auch dazu, dass ich in öffentlichen Toiletten, sofern Reinigungskräfte am Eingang standen, oft mit sehr verwirrten Blicken begrüßt wurde, vor allem, wenn ich geradewegs auf die “Damentoilette” zuging. Manchmal wurde mir auch hinterhergerufen. Eine kurze Drehung meines Körpers, um die Konturen meines Oberkörpers unter meiner Kleidung (falls ich an diesem Tag keine Binde trug) zu zeigen, führte zu roten Gesichtern und entschuldigenden Gesten.
Auch ohne Gesichtsmaske und im Sommer werde ich sehr oft von hinten oder aus der Ferne mit “Junger Mann”, “Der Herr” oder einmal sogar mit “Meister” angesprochen. Letzteres bezog sich darauf, dass ich ungünstig auf dem Bürgersteig stand und einem herannahenden Auto die Parkmöglichkeit versperrte. Worüber ich nur laut gelacht habe.
Egal, wo es passierte, ich verkniff mir oft ein Lächeln. Weil ich die Leute beobachtete, bis sie merkten, mit wem sie es zu tun hatten. Oder es zumindest glaubten. Weil man in ihren Augen lesen konnte, dass es sie völlig verwirrte, dieses Konglomerat aus Frisur, Kleidung, Gang, Gesichtszügen und Stimme.
Vor allem die Kleidung macht immer einen großen Unterschied, die Frisur treibt die Verwirrung auf die Spitze. Dabei sind Haare und Kleidung an sich völlig geschlechtslos. Erst wir schreiben den Kleidungsstücken, den Gegenständen, ein Geschlecht zu, als hätten sie irgendeine aufgeladene Bedeutung. Und indem wir bestimmte Kleidung tragen, übertragen wir diese Bedeutung auf unsere Körper. Und auf die Körper der anderen. Wer einen Bikini tragen darf, wer Hosen tragen darf. Aber auch, wer in vielen Kontexten oben ohne laufen darf, ohne Ärger zu machen. Es würde genügen, die Kleidung nach ihrer Beschaffenheit oder nach dem Kontext zu kennzeichnen, in dem sie gebraucht wird. Es gibt Kleidung für Trekking, Freizeit, Business, Schwimmen. Warum braucht es da noch eine geschlechtliche Unterteilung? Körperliche Selbstbestimmung sollte auch die wertfreie Wahl der Kleidung einschließen.
Aber auch Teile von uns ordnen wir vermeintlichen Geschlechtern zu. Wie unsere Kopfbehaarung aussieht und was wir mit der restlichen Körperbehaarung machen. Wer lange Haare tragend darf oder wer Teile seiner Kopfhaut auf 2mm getrimmt hat. Wer einen Penis hat, wird in die eine Schublade gesteckt, wer eine Gebärmutter hat, in die andere. Und es öffnen sich Dutzende weiterer Schubladen, in denen unsere Körperteile noch weiter kategorisiert werden. Nach Länge, nach Größe, nach Ästhetik oder Beschaffenheit.
Dass ich mich heute so schneiden lasse, wie ich auf den meisten aktuellen Fotos von mir zu sehen bin, hat lange gedauert.
Was definiert mich als “etwas” ?
Viele Jahre habe ich mich in meinem Körper sehr unwohl gefühlt. Mit den Erwartungen, die an mich gestellt wurden. Und das ging eigentlich mein ganzes Leben so.
Wie viele andere queere Menschen habe ich relativ spät erfahren, dass ich queer bin. Dazu kommt das Umfeld, in dem ich aufgewachsen bin. Katholisch, ostdeutsch, konservativ. Queerness war eine Sünde im katholischen Glauben. Nachdem ich mit etwa 19 Jahren mein erstes inneres und äußeres Coming-out hatte - wobei das turbulente Coming-out ein eigenes Posting verdient - war ich immer noch sehr unzufrieden.
Gleichzeitig war ich mit zu vielen anderen Dingen im Leben beschäftigt, so dass ich diese undefinierbare Unzufriedenheit ständig mit mir herumtrug.
Nach der Annäherung an das Nicht-Binär-Sein, ohne es benennen zu können, viel mentalem Chaos und einer krassen Abnehmphase, in der ich in ca. 6 Monaten 20 kg abgenommen und viel Muskelmasse aufgebaut habe, hat sich mein Aussehen verändert. Vor allem aber meine Einstellung zu meinem Körper.
Die jahrelange Aufarbeitung in der Therapie, die Zeit, die ich mir für mich selbst genommen habe, hat mir geholfen, mich selbst auszuloten. Zu verstehen, wie ich mich fühle. Dass es in Ordnung war und dass ich keine Kategorien von außen brauchte, die mich definierten. Ich fühlte eine Abneigung gegen “Frau”, weil mir das mein ganzes Leben lang unreflektiert übergestülpt wurde. Ich fühlte nichts für “Mann”, weil ich nichts darin sah, was ich sein wollte. Im Dazwischen, im Nichts, außerhalb des Spektrums, im Nirgendwo... da fühle ich mich wohl. Ein unendlicher Raum ohne Erwartungen und voller Möglichkeiten.
Ich bin.
Das reicht für mich.
Der Haarschnitt der mich am wohlsten fühlen lässt. Dass ich mich überhaupt gerne im Spiegel betrachte.
Ich. Bin.
Und gleichzeitig empfinde ich eine Dysphorie gegenüber bestimmten Teilen meines Körpers, weil sie mir von außen einen Stempel aufdrücken. Weil sie mich daran hindern, mich so zu fühlen, mich ganz auszuloten, mich ganz in den Geschlechterkategorien aufzulösen. Ich benutze Labels wie nicht-binär und queer, um mich einer bestimmten Gruppe zugehörig zu fühlen. Aber für mein eigenes Leben brauche ich sie nicht.
Was ist es, was mich begehrenswert macht?
In den letzten Wochen und Monaten habe ich viel darüber nachgedacht und mit Menschen darüber gesprochen, wie romantisches und sexuelles Begehren entstehen kann. Viele Menschen haben mir gesagt, dass es ihnen egal ist, welches Geschlecht jemand hat, weil nur der Charakter zählt. Und trotzdem... konnten sie sich nur schwer vorstellen, sich mit jemandem zu verabreden, der zum Beispiel kein “Mann” ist, also ein cis-heterosexueller Mann. Viele argumentierten, dass sie sich zu Männern hingezogen fühlten und fügten hinzu, dass dies auch bei queeren Menschen der Fall sei.
Bereits in den 50er Jahren gab es Versuche, wie z.B. die Kinsey-Skala, sexuelles Begehren auf einem Spektrum darzustellen und zu definieren. Von ausschließlich heterosexuell über “meistens heterosexuell, ab und zu homosexuell” bis hin zu ausschließlich homosexuell. Wir kennen Sprüche wie “being queer is no choice”. Genauso wenig wie eine Konversionstherapie Menschen in irgendeiner Weise "straight" machen würde. Es gibt auch den Spruch “you can’t turn somebody gay”, was für manche vielleicht ein Segen, aber auch ein Fluch sein kann. Vor allem, wenn die eigenen Crushes zu oft heterosexuelle Frauen sind.
Ich würde all dem zustimmen, aber gleichzeitig stellt sich mir die Frage, was genau es ist, was uns körperlich anzieht. Und ab wann es beginnt.
Für mich als nicht-binäre Person, die zum jetzigen Zeitpunkt keinen Test machen will, ist diese Frage auch immer wieder durch meinen Kopf gegangen. Aber aus der Perspektive der*des Begehrten. Für welche Menschen wäre ich plötzlich “attraktiv”? Wenn meine Stimme in den Stimmbruch kommt? Wenn ich einen Bart bekomme? Oder erst, wenn ich über eine Phalloplastik nachdenke? Oder wäre ich überhaupt attraktiv, weil mir diese Dinge nicht in die Wiege gelegt wurden?
Wäre das nicht erneut eine Reduzierung auf bestimmte Eigenschaften, die ohnehin bei vielen Menschen sehr unterschiedlich sein können? Es gibt Menschen mit hoher Stimme und Menschen mit tiefer Stimme. Es gibt Menschen mit starkem Bartwuchs, andere haben höchstens einen leichten Flaum um die Wangen.
Die Wissenschaft ist sich einig, dass wir nicht aktiv beeinflussen können, zu wem wir uns romantisch oder sexuell hingezogen fühlen.
Viele von uns spielen zwar mit dem Gedanken, haben theoretisch nichts dagegen. Aber natürlich spielen auch andere Faktoren wie Sozialisation und Medien eine Rolle, die sehr wohl beeinflussen können, ob wir uns für unser Begehren schämen und ob daraus ein Leidensdruck entsteht.
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