Was ich mir von dir gewünscht hätte
Ein Brief an meine Mutter und für alle anderen Mütter zum Muttertag
Wenn ich an dich denke, spannen sich meine Nackenmuskeln an. Jede Bewegung meines Kopfes tut weh.
Mein Atem stockt, wenn ich Gerüchen begegne, die mich an dich erinnern.
Mein Herz schlägt gegen meine Rippenbögen, die Gedanken in meinem Kopf verschwimmen zu einem dichten Nebel, wenn ich Geräusche höre, die mich an damals erinnern.
Heute, an diesem Tag, hast du erwartet, dass man dir gratuliert. Dass man dir alles Gute wünscht. Dass man dir sagt, was für eine tolle Mutter du bist. Dass man dir dankbar ist und dass man dir immer noch nicht dankbar genug ist.
(Ich will nicht um die Geschichte dieses Tages herum schreiben, denn darüber wird international ausführlich geschrieben und zu recht kritisiert).
Es geht um dich. Es geht um mich.
Du hast geschuftet, heimlich, obwohl er es dir verboten hatte.
Wie undankbar sind wir, deine Kinder.
Du hast geschuftet, mit Fieber.
Wie undankbar sind wir, deine Kinder.
Du hast dich abgemüht, frisch operiert.
Wie undankbar sind wir, deine Kinder.
Du hast geschuftet, als die Kolleg*innen nicht zur Arbeit erschienen sind.
Wie unglaublich undankbar.
Du wolltest Hebamme werden,
er wollte es nicht.
Du wolltest Zeit für dich haben.
Er hat dir die ganze Arbeit gegeben.
Du wolltest ein Leben leben.
Er hat dich zur VHS geschickt, damit du genug Deutsch für die Elternabende verstehst.
Egal wie wenig Schlaf du hattest. Sie haben dich wie Dreck behandelt, weil du aufgefallen bist. Sobald du versucht hast Deutsch zu sprechen.
Wie sie Witze gemacht haben, wenn du Wörter falsch ausgesprochen hast.
Wie sie mit Polenwitzen um die Ecke kamen, sobald du sagtest woher du kommst.
“Das ist doch noch Deutschland.”
“Bald gehört das wieder Deutschland.”
Wie bissig deine Antworten waren, weil du es dir nicht gefallen lassen konntest, so behandelt zu werden. Wenigstens äußerlich konntest du damit umgehen.
In dir herrschte so viel Wut, so viel Schmerz, so viel Trauer. Du warst zu stolz, um Hilfe zu bitten.
Wahrscheinlich hätte dir niemand zugehört.
Du hast mir beigebracht, dass ich ohne gute Noten nichts wert bin.
Ich soll mich benehmen.
Ich soll die Älteren respektieren.
Ich soll euch Eltern nie widersprechen.
Ich soll es nicht wagen dir zu widersprechen.
Ohne Familie bin ich nichts wert.
Ich soll meiner Familie keine Schande machen.
Ich soll dir Enkelkinder schenken.
Du hast dich geschämt, als ich mich geoutet habe.
Lieber bin ich wertlos für dich als ein Fehler in deinen Augen.
Ich wünschte, du hättest mir geglaubt. Geglaubt hättest, als ich dir sagte, wie ich meine Kindheit empfunden hatte. Was mir angetan wurde. Was du mir angetan hast.
Wenn ich dich noch fragen könnte:
Sollte man Kindern sagen, man setzt sie zur Adoption aus, wenn sie sich nicht benehmen?
Sollte man Kindern mit Gewalt drohen, wenn sie keine guten Noten nach Hause bringen?
Sollte man Kinder schlagen?
Du weißt, was die Antwort auf diese Fragen sein sollte. Du weißt, es gibt nur eine Antwort auf diese Fragen. Du weißt…
“Ich habe dich aber nie so fest geschlagen wie er.”
Der Witz ist irgendwo auf der Strecke geblieben, ich suche den Raum ab nach einer Kamera, nach einem aufgenommenen Publikumslacher.
*Nummer blockiert*
Ich wünschte, du hättest Verantwortung übernommen. Für die Dinge, die du getan hast. Die Dinge, die du gesagt hast. Denn du hast mich für das restliche Leben geprägt und ich werde jeden Tag daran erinnert.
Wie ich heimlich deine Kontoauszüge kontrollierte um zu wissen welche Frage ich mir erlaubten durfte.
Wie ich deine Schritte im Treppenhaus erkannte, egal zu welcher Uhrzeit und kerzengerade darauf wartete, in welcher Stimmlage du dich bemerkbar machen würdest, sobald du die Türschwelle durchschritten hast.
Verantwortung für all die ausgesprochenen Worte. Für all die Faustschläge, Handschläge, rausgerissenen Haare.
“Sie werden nie wieder gesund durch das, was sie erlebt haben.”
Ich kenne Mütter und sehe, wie sie mit ihrem Kind, ihren Kindern umgehen. Wie sie über sie reden. Wie sie mit ihnen reden.
Wieso hast du nie mit mir so geredet?
Ich wünschte, ich hätte nicht das abgekommen, was die Generationen vor dir dir angetan haben. Was sie von dir verlangt haben. Was die Welt, die du kanntest, von dir damals verlangt hat.
Es war nicht meine Entscheidung nach Deutschland zu kommen.
Erwarte bitte nicht, dass meine Dankbarkeit endlos ist.
*Adressat konnte nicht ermittelt werden*
Ich glaube immer noch daran, dass eine Entschuldigung all den Schmerz, all die Trauer, all die Wut,
etwas, ein wenig, ein bisschen,
lindern könnte. Ein Verständnis entgegenbringen könnte. Ein zugewandter Blick. Im Nebel des Nicht-Verstehens.
Vielleicht liegt mein Einsatz auf dieser Hoffnung, die sich als falsch herausstellen könnte.
Ich versuche Erklärungen zu finden, warum du so warst, warum ich dir nie ausgereicht habe. Egal wie sehr ich mich angestrengt habe. Ich lese nächtelang Bücher
transgenerationale Traumata
Fluchterfahrung
Sozialismus
Häusliche Gewalt
Aufwachsen in Armut
Machtmissbrauch
Parentifizierte Kinder
ACEs-Kinder
An welcher Stelle hätte der Kreis genug Brüche gehabt, damit du hättest endgültig ausbrechen können?
Es gibt Mütter da draußen, Menschen, Sternschnuppen, Naturgewalten. Große Worte…
die sich zeigen,
die zeigen, wie viel sie schaffen
Wie sie Berge versetzen möchten.
Wie sie Wände einreißen,
Wie sie Cycles durchbrechen,
Wie sie scheitern,
Wie sie Schmerzen aushalten
Wie sie versuchen,
Wie sie sich die Zähne ausbeißen,
Wie sie dran festhalten
es besser zu machen.
Wissen, was früher falsch gelaufen ist. Wie müde sie sind. Und trotzdem weiter machen.
Für ihr Kind.
Für ihre Kinder.
Für Kinder, die kommen.
Für Kinder, die nicht mehr hier sind.
Für Kinder, die nicht ihre sind.
Wie sie aber auch nur kleine Einblicke zulassen. Kleine Lichtblicke, Liebesblicke, Gedächtnisbrücken für die Zukunft.
Zu recht. Wie sie bei all der Arbeit sich auch für andere einsetzen. Sichtbar, unsichtbar. Nicht jedes Mal muss eine Insta-Story herhalten.
Vielleicht hättest du solche Menschen in deinem Umfeld gebraucht? Hätten sie dir geholfen, deinen eigenen Cycle zu durchbrechen? Hättest zur Ruhe kommen können, verweilen zwischen Atemzügen voller Schwere.
Wie schön die Welt wäre, könnten wir uns schamlos in der Trauer und im Schmerz unseres Seins zeigen.
Wie schön die Welt wäre, wenn wir noch lauter, noch stärker, noch liebevoller füreinander da wären. Einander verzeihen und lernen, dass es weiter gehen muss. Jeden Tag, jeden neuen Sonnenaufgang. Durch jeden durchbrochenen Cycle. Und ja, auch sie machen Dinge, die man als Fehler bezeichnen könnte. Auch sie sind müde, genervt, frustriert, verbittert, einsam. Es geht um kein Emporheben eines vermeintlichen Perfektionismus.
Stattdessen ein perfekter Imperfektionismus. Ein Glorifizieren des Menschseins. Des Fehlbaren. Des Verzeihbarens. Des Lebens. Des am Leben bleiben wollen. Für das Weiter machen.
Ein liebevoller Dank gilt ihnen, den Müttern und Elternteilen, Solo-Müttern, den Patchwork-Müttern. Ein Dank, für den es einen solchen Tag nicht braucht.
Für eine Gesellschaft jeden Tag aufstehen, eine utopische, eine liebevolle, eine radikal zärtliche. Eine Gesellschaft, in der Mütter so sein können, wie sie es wünschen. Wie sie es verdient haben.
Die folgende Liste könnte ewig werden, aber vielleicht ist sie nur ein Anfang. Ein Versuch. Ein erneuter Anfang. Ein Wiederentdecken. Ein tägliches Lernen. Ein Aufruf, in den ich meine ganze Liebe einschließen und über die Kilometer rausschicken möchte, vor all ihre türen. Ein Neuentdecken, ein Sich-Wiederfinden:
Isabelle Rogge, Oyindamola Alashe, Ninia LaGrande, Teresa Bücker, Sookee, Anna Mendel, Hami Nguyen, Denise M’Baye, Yassamin-Sophia Boussaoud, Natalie Stanczak, Barbara Zimmermann, Wopana Mudimu, Hadija-Haruna Oelker, Ilka Lorenzen-Butzmann, Christina Clemm, Asha Hedayati, Bettina Wilpert
an alle Pflegemütter, Stiefmütter, Mütter, Mamas, Mamis, Elterteile, Pat
innen, Eltern und viele mehr.
From Mizeria With Love
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- Samson