Verletzlich zeigen, weil wir es zu wenig tun
Über die Macht, die eigene Verletzlichkeit zu zeigen und wie wir damit Ängste nehmen und Räume öffnen
“Du, ich habe gerade wirklich kein Geld für ein Café oder generell zum Essen oder Trinken. Ist es okay, wenn wir uns bei mir oder bei dir treffen und einfach Zeit miteinander verbringen?”
Diesen Satz schrieb ich einer Freundin, als wir unser nächstes Treffen planten.
Als wir uns ein paar Tage später trafen, erzählte sie mir, wie befreiend diese Aussage für sie war. Denn auch sie hatte nicht viel Geld für diesen Monat übrig und durch meine Aussage hatte sich die angenehme Möglichkeit eröffnet, sich einfach bei mir auf ein paar Tassen Tee zu treffen.
Dabei kannte ich es von früher gar nicht anders. Ich kann mich an kein einziges Mal erinnern, dass wir mit meiner Mutter in einem Café waren. Meine Mutter ist immer zu ihren Freundinnen gegangen. Oder umgekehrt. Das erste und einzige Restaurant, das wir in meiner Jugend besucht haben, war McDonalds. Das hatte damals vor allem damit zu tun, dass meine Mutter, aber auch der Rest meiner Familie, es nie einsahen, für das, was wir zu Hause hätten essen können, auswärts essen zu gehen. Aber Burger und Pommes, das war etwas Neues für eine polnische Familie. Bei allem anderen kam der Satz: “Das haben wir zu Hause”. Und damit war jede Diskussion beendet. Irgendwann habe ich auch nicht mehr gefragt. Als ich älter wurde, meine Eltern sich scheiden ließen, habe ich aus Selbstschutz heimlich die Kontoauszüge meiner Mutter kontrolliert. Damit ich wusste, welche Fragen ich zu welchen möglichen Ausgaben stellen konnte. So bin ich aufgewachsen, so dass ich meine ersten Café-Erfahrungen erst mit Mitte 20 hatte. Während meines Studiums. Wo ich auch nicht ganz verstanden habe, warum ich für eine Cola, die im Supermarkt knapp 1 Euro gekostet hat, plötzlich das Doppelte bezahlen sollte. Und da ich auch damals finanziell nicht gut dastand, habe ich solche Orte weiterhin gemieden. Die aber in meiner Wahrnehmung häufige Treffpunkte von Studierenden und anderen Menschen waren.
Wenn ich z.B. zu Lesungen gehe, eine der wenigen Aktivitäten, für die ich gerne Geld ausgebe, dann trinke ich draußen nichts. Ich sehe es nicht ein, für eine kleine Cola in einem Theater oder einem anderen Veranstaltungsort zwischen 3 und 4 Euro zu bezahlen. Selbst Wasser kostet oft mehr als 2 Euro. In meinem Kopf rattert es dann, wie viel mein Wasser aus dem Hahn zu Hause kostet und dass ich in meinem Supermarkt in der Nachbarschaft fast einen 6er Pack Cola Zero mit 1,5l Flaschen bekommen könnte (Pfand natürlich extra gerechnet). Ich habe da immer noch eine riesige Hemmschwelle. Aber viele scheinen mitzumachen. Als ich das letzte Mal mit einer anderen Freundin bei einer Lesung in einem Radiosender war, war ich total überrascht, dass die Getränke dort umsonst waren. Und da ich schon mehrere Stunden unterwegs war, bat ich vorsichtig um eine kleine Flasche Sprudel. Wie sehr ich mich über dieses Erlebnis gefreut habe. Dabei war es ja “nur Wasser”.
(Und ja, man könnte immer noch eine Aluflasche oder ein anderes Trinkgefäß mitnehmen. Und nein, natürlich müssen Cafés und Restaurants ihre gesamten Betriebskosten auf die Getränke und Speisen umlegen. Aber der Preis spiegelt oft nicht die Qualität der Getränke und Speisen wider und könnte auch andere Fragen aufwerfen, die hier nicht behandelt werden sollen.)
Make it pretty
Heutzutage zeigt mir mein Instagram-Feed, wie häufig die Leute, denen ich folge, sich in Cafés treffen, mittags auswärts essen gehen oder abends mit Freund*innen in Bars oder Restaurants abhängen. Die Cafés und Restaurants präsentieren ihre Getränke und Speisen in der schönsten visuellen Form. Alles instagrammable. Alles soll FOMO machen, uns das Gefühl geben, dass wir das brauchen. Gesehen werden. Mitgemacht. Ein Miteinander ohne gleichzeitigen Konsum scheint weniger wert zu sein.
Das mag eine rhetorische Frage sein, aber ist es das wirklich?
Laut einer Studie auf statista wurden zwischen 2019 und 2023 über 20.000 Menschen gefragt, wie oft sie auswärts essen gehen. Über 50 Prozent der Befragten gaben an, ab und zu auswärts essen zu gehen. 10 Prozent der Befragten gaben an, häufig auswärts zu essen. Was als häufig oder ab und zu auswärts essen gilt, wurde nicht näher erläutert. Es stellt sich natürlich die Frage, warum diese Werte, die auch im Rahmen der Corona-Pandemie abgefragt wurden, relativ gleich geblieben sind. Es gibt aber ähnliche Studien, die in der einen oder anderen Weise deutlich machen, dass Menschen gerne auswärts essen gehen.
Auswärts essen zu gehen kann eine Möglichkeit der Selbstdarstellung sein. Ich habe das Geld, ich kann es mir leisten. Ich kann mir das Essen leisten, ich kann mir diese Erfahrung leisten. Es geht mir gut. Es kann Dutzende von Erklärungen geben. Alles, was mir extrem schwer fällt. Zum einen, weil ich aus verschiedenen Gründen finanziell wieder in einer schwierigen Situation bin (wer den Mastek-Aufruf gesehen hat, weiß, wovon ich spreche), zum anderen, weil ich nie damit sozialisiert wurde. Natürlich finde ich es schön, wenn man in einem Restaurant sitzt und leckeres Essen an den Tisch gebracht bekommt. Und es gibt unglaublich leckeres Essen, das ich nie nachkochen könnte. Zum Beispiel Ramen. Oder eine gute Pizza. Aber ich fühle mich trotzdem unwohl. Beobachtet. Wie ich angezogen bin, wie ich mit dem Besteck umgehe, wie ich aussehe. Wie die Leute mich lesen und was das für eine Wirkung haben könnte. (Im vorletzten Newsletter habe ich darüber geschrieben, wie mein Äußeres Verwirrung stiften kann, weil Menschen immer noch bestimmte äußere Merkmale mit einem vermeintlich eindeutigen Geschlecht verbinden).
Wenn ich mich als offen queere Person in heteronormativen Räumen bewege, denke ich immer darüber nach, ob das auch negative Konsequenzen haben könnte. Konsequenzen, die über böse Blicke oder abwertende Kommentare hinausgehen. Es muss aber nicht einmal das sein. Es kann auch einfach sein, dass ich mich blamiere, weil ich nicht die perfekten Tischmanieren habe. Weil ich nicht perfekt mit Messer und Gabel umgehen kann. Ich war noch nie in einem Restaurant, in dem es mehrere Gabeln, Löffel und Messer pro Person gibt und in dem es eine Reihenfolge gibt, in der sie benutzt werden müssen. Aber man könnte das auf alle anderen Arten des Essens in bestimmten Restaurants übertragen. Von zu Hause war ich es gewohnt, bei jeder gemeinsamen Mahlzeit Kommentare von meiner Familie zu bekommen. Wenn mein Körper auf den Ellbogen auf dem Tisch lag, wenn ich es wagte, die Suppe vom Löffel zu schlürfen, wenn ich ungeschickt die Nudeln mit der Gabel auf den Löffel drehte. Jede Bewegung wurde beobachtet und beurteilt. Immer mit der Begründung: “Wir wollen uns nicht für dich schämen”. Was im Nachhinein absolut widersprüchlich war. Denn wir sind so gut wie nie auswärts essen gegangen. Auf jeden Fall hat mich das gemeinsame Essen sehr gestresst.
Ich spreche also bin ich?
In den letzten Jahren habe ich gemerkt, welche Wirkung es hat, wenn ich Dinge, die mir persönlich unangenehm sind, oft positiv beantworte. Denn meine jahrelange Sorge, mit dieser Scham, mit dieser Unsicherheit, mit dieser Vergangenheit allein zu sein, war nicht nur meine persönliche Sorge. Wenn wir Menschen von außen betrachten, sehen wir oft nichts von ihrer persönlichen Geschichte. Zumindest nicht immer. Wir wissen nicht, wie sie aufgewachsen sind, wie es ihnen finanziell geht. Es sei denn, es ist offensichtlich. Aber Menschen wie ich, die in Armut aufgewachsen sind, und gleichzeitig war die Scham so groß, dass meine Mutter ihr Bestes getan hat, damit wir nach außen nicht arm aussahen. Denn sie wusste auch, gelernt durch Trash-TV-Formate, durch die Medien, durch ihre eigene Sozialisation, wie Menschen mit abgetragener oder gar zerrissener Kleidung wirken. Es gab bestimmte Kleider, die man in der Schule zu tragen hatte, oder wie man zum Sonntagsgottesdienst in der Kirche in der Nachbarschaft zu erscheinen hatte. Denn die Scham, der Gedanke "Was sollen die anderen denken?
Und indem ich über diese Dinge spreche, sie in meinen Alltag einbringe, so beiläufig, so offen, so vertrauensvoll, nehme ich meinem Gegenüber die Sorge, dass zwischen uns Scham entstehen könnte. Wenn wir nicht der “bürgerlichen Mitte” entsprechen. Was auch immer das am Ende ist. Wenn wir etwas zugeben müssten, was als Makel gelesen werden könnte. Wofür wir uns angeblich schämen müssten. Weil arm sein immer auch heißt, versagt zu haben, zu den Verlierern zu gehören. Weil der Kapitalismus uns lehrt, dass wir selbst schuld sind. Denn queer sein könnte bedeuten, dass wir Sündiger*innen sind. Dass wir eine Schande für unsere Blutsfamilie sind. Denn wenn wir keine Karriere machen oder keinen Erfolg haben, was auch immer das sein mag, haben wir wieder einmal versagt. Wenn wir nicht wissen, wie man Bourdieu schreibt, ohne nachschlagen zu müssen (p.s.: ich musste den Nachnamen nachschlagen), oder wenn wir bestimmte Theaterstücke nicht kennen. Weil wir kein Geld haben oder nie mit Geld sozialisiert wurden und uns das Theater schlichtweg egal ist. Wenn wir keinen teuren Urlaub machen. Weder Skifahren noch Surfen gelernt haben. Dann sind wir langweilig oder gehören nicht zu den “Coolen”. Und so weiter. Alles Blödsinn.
Alles Lügen, die wir täglich durchbrechen müssen. Die wir jeden Tag ansprechen müssen. Die wir uns jeden Tag gegenseitig vorhalten müssen. Denn wir sind alle Menschen, die sich am Ende doch nur verbinden wollen. Auch wenn dieser ganze Prozess schmerzhaft sein kann und sicher auch sein wird. Dem müssen wir uns stellen. Aber damit sind wir nicht allein.
Es fällt mir nicht immer leicht, über meine Traumata, meine Geschlechtsdysphorie, meine Ängste oder meine Kindheit zu sprechen. Aber die Tatsache, dass es mit anderen Menschen Resonanz findet und wir uns dadurch alle ein wenig weniger allein fühlen, ist in diesen Zeiten immens wertvoll.
From Mizeria With Love
In diesem Newsletter dreht sich vieles um teils persönliche Erfahrungen und wie es ist, migrantisch, queer und mental krank zu sein. Und allem dazwischen. Alles, was immer noch zu unsichtbar scheint.
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Danke für deine Worte, deinen Mut, deine Geschichte, die du mit uns teilst! Ich habe gerade so oft innerlich „ja“ gerufen. Freue mich drauf, noch mehr von dir zu lesen!
....."verletzlich sein, weil wir es zu wenig tun" um "ein wenig weniger allein zu sein".
Und die Verletzlichkeit anderer sehen und über Mauern klettern um sich zu finden, sich zu erreichen, miteinander zu sein, zu verstehen, füreinander da zu sein und so vielleicht ein wenig zu heilen.
Danke für Deine Offenheit und die inspirierenden Worte.