Über das Gefühl, ein Ballast für andere zu sein
Gefühlswelten mit mentalen Gesundheitsproblemen
Wer unter mentalen Gesundheitsproblemen leidet, sei es Depressionen, Suchterkrankungen oder Angststörungen, kennt diesen Satz vielleicht:
“Ich möchte nicht zur Last fallen.”
Ein Satz, den Leute wie wir vielleicht öfter gehört haben. Von unserer inneren Stimme. Und das leider nicht ohne Grund.
Die Stigmata um mentale Gesundheitsproblemen oder auch psychische Erkrankungen ist leider bei all der Aufklärungsarbeit, all den Büchern und Podcasts immer noch hoch.
Denn Menschen wird entweder nicht geglaubt, weil psychische Erkrankungen nicht so sichtbar sind wie ein gebrochenes Bein. Oder aber auch, wie so häufiger, weil psychische Erkrankungen gar nicht ernst genommen werden. Sätze wie diese haben viele gehört:
“Jedem geht es mal schlecht.”
“Warst du heute schon mal draußen an der frischen Luft?”
“Probier’ doch einfach mal Yoga / Wandern / x-beliebiges anderes neues Hobby.”
Zu “glücklich” für Depressionen, zu leistungsfähig für Trauma
Wer psychisch erkrankt ist, dem geht es gar nicht so schlecht. Denn anhand eben genannter “Vorschläge” wird suggeriert, dass es Erkrankungen wären, die relativ einfach wieder gut zu machen wären. Um bei der vorherigen Metapher zu bleiben; Würden wir bei einem Menschen mit gebrochenem Bein auch einfach nur sagen: "Du musst dich einfach wieder etwas mehr bewegen?”
Bei psychischen Erkrankungen bist du in vielen Fällen immer noch in der Lage zu gehen, deine Gliedmaßen zu bewegen und zu sprechen. Deshalb werden Gefühle und Wahrnehmungen bei solchen Erkrankungen häufig nicht ernst genommen. Belächelt. Vielleicht fehlt dir auch einfach nur das richtige Mindset. “Einfach nicht so negativ denken.” oder “Wenn du so negativ denkst, kann sich ja eh nichts zum Guten wenden!” Schuldzuweisung bei psychischen Erkrankungen. Lieben wir (nicht!)
So unterschiedlich Menschen auch sind, so unterschiedlich können auch psychische Erkrankungen auffallen. Nicht jeder depressive Mensch kann nicht morgens aus dem Bett kommen. Auch Menschen mit Trauma können bei Comedies lachen und Menschen liebevoll umarmen.
Es gibt Menschen wie mich, die sind absolute High Performer. Sie arbeiten, manchmal extrem viel, engagieren sich, treiben Sport, achten auf ihre Ernährung. Sie werden beim Lachen gesehen, mit ihren Freund*innen. Wie kann jemand wie ich an einer komplexen PTBS leiden? Dir geht es doch so gut, wurde mir viele Jahre lang von Arbeitskolleg*innen oder “Freund*innen” gesagt, wenn, je nach Kontext und Bekanntheitsgrad, sehr oberflächlich über psychische Probleme gesprochen wurde. (Letzteres habe ich irgendwann aus meinem Leben ausgeschlossen, weil es nicht mehr erträglich war).
Diese Verhaltensweisen können dazu führen, dass psychische Erkrankungen weniger sichtbar werden. Psychische Erkrankungen können diese Verhaltensweisen auch ins Extreme treiben. Schuldgefühle, eine Last zu sein, vor allem für andere, können zu einem ungesunden Antrieb werden, diese Gefühle kompensieren zu wollen. Zeigen zu wollen: “Hey, mir geht es zwar beschissen, aber ich arbeite, ich sorge für mich. Ich falle niemandem zur Last”.
All das kann noch verstärkt werden, wenn man als “People-Pleaser” aufgewachsen ist, wenn man von der Familie zusätzlich unter Druck gesetzt wird, “etwas aus sich zu machen”. Migrantische, rassifizierte Menschen kennen das vielleicht noch stärker, vor allem in westlichen Ländern. Das Gefühl, sich noch mehr anstrengen zu müssen als andere, um sichtbarer zu werden. Um eine Chance zu haben. Vielleicht auch familiäre Vorurteile gegenüber psychischen Erkrankungen. Meine Familie hat auch immer gesagt, psychisch Kranke sollen sich einweisen lassen. Egal wie schlimm, das wäre ein Störfaktor. Und vor allem nichts, was jemand in meiner Familie hätte ( sorry, but hellooo. it’s me).
Und auch hier wird einem nicht geglaubt. Sei es, weil man einem wieder vorhält, man habe doch gestern noch gelacht. Depressive Menschen lachen nicht. Oder wenn ein oder mehrere Familienmitglieder durch ihr Verhalten die psychische Erkrankung mit verursacht haben, kann es auch sein, dass darüber geschwiegen wird. Denn wenn über Probleme und Grenzüberschreitungen gesprochen wird, sind sie zwar da. Aber natürlich nie in der eigenen Familie. Was würden denn die Nachbarn denken?
Diese erlebten Gedanken, die Unfähigkeit, im engsten Kreis über die psychische Erkrankung zu sprechen, verstärken die Probleme und Stigmatisierungen von außen. Dies kann auch in Partnerschaften und anderen Beziehungen der Fall sein. Das hängt auch damit zusammen, wie diese Menschen mit dem Thema aufgewachsen sind.
Kapitalismus braucht leistungsfähige Körper
Nein, körperliche Erkrankungen haben einen anderen Stellenwert in der Gesellschaft, eben auch wieder, weil körperliche Erkrankungen meist sichtbarer sind (außer vielleicht Herzgefäßerkrankungen und Ähnliche). Auch heute noch gibt es viele Stigma rund um psychische Erkrankungen. Denn diese vermeintliche Unsichtbarkeit hat auch mit unserer Leistungsfähigkeit zu tun. Denn Leistung zu erbringen bedeutet, Teil dieser Gesellschaft zu sein. Sein zu dürfen. Willkommen im Kapitalismus. Menschen, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht oder nur "bedingt” Teil dieser Leistungsgesellschaft sind, werden eher als Ballast empfunden. Nicht nur Menschen mit psychischen Erkrankungen, auch Menschen mit Behinderungen oder Lohnarbeitslose. Ein Punkt, der durch die NS-Zeit heute mitschwingt und leider auch auf ihr aufbaut.
Leben in einem kaputten System
Zwar können wir feststellen, dass die Akzeptanz von psychischen Erkrankungen über die letzten Jahrzehnte gestiegen ist und mehr Menschen Hilfe in Anspruch nehmen, gleichzeitig sind die Stigmata immer noch nicht verschwunden. Denn guess what, der Kapitalismus ist leider immer noch da, wird gehyped als angeblich tollste Sache der Welt. Denn wir könnten uns ja all das Glück einfach kaufen.
Mit psychischen Erkrankungen wird leider auch versucht, immer mehr Geld zu machen. Sei es mit Apps, Zeitschriften, Retreats und, und, und. Begünstigt durch die Unterversorgung in unseren Gesundheitssystemen. Anstatt die Gesundheitsversorgung langfristig mit mehr Kassensitzen für Psychotherapeut*innen zu verbessern, wird auf andere Maßnahmen zurückgegriffen. Ob all die “Mental Health Apps” da draußen, die in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, wirklich eine Psychotherapie ersetzen können, ist fraglich.
Ebenso sind Berufe wie Heilpraktiker*innen zur Psychotherapie oder die rechtlich nicht geschützte Bezeichnung “Coach” ein weiteres Problem. Denn es ist nie ersichtlich, welche Ausbildungen diese Personen tatsächlich durchlaufen haben, wie selbstreflektiert sie sind. Und Beschwerdestellen bei “Fehlbehandlung” oder Diskriminierung gibt es meist nicht. Viele greifen aber auf sie zurück, weil sie ewig auf einen Therapieplatz warten. Bei vielen psychischen Erkrankungen können solche Menschen aber keine Hilfe sein, im Gegenteil. Im Worst Case verschlimmern sie das Leiden und kosten gleichzeitig viel Geld. Denn nicht alle erkennen die eigenen Grenzen ihrer beruflichen Kompetenz an und weisen Klient*innen ab. Denn wenn sich mit einem Problem Geld verdienen lässt und die Hürden relativ niedrig sind, dann sind auch jene nicht weit, die für die Arbeit mit Menschen absolut ungeeignet sind, aber gleichzeitig Profit daraus schlagen wollen. Welcome to capitalism, again. .
Diskriminiert im Leben und im Gesundheitssystem
Wobei wir das vorhandene Gesundheitssystem absolut nicht in den Himmel feiern sollten. Denn es ist nicht für alle gleichermaßen zugänglich. Menschen mit Diskriminierungserfahrungen und psychischen Erkrankungen haben noch schlechtere Karten. Durch die ständigen Diskriminierungserfahrungen ist die Wahrscheinlichkeit, psychisch zu erkranken, deutlich höher. Und leider hören Diskriminierungserfahrungen vor den Praxistüren nicht auf. Wenn wir überhaupt einen Zugang zur Gesundheitsversorgung finden.
Denn wir haben immer noch sehr viele privilegierte Menschen im Gesundheitssystem, die aufgrund finanzieller Möglichkeiten, aber auch aufgrund fehlender Barrieren dort sind. Und was haben diese Menschen jahrzehntelang gelernt? Medizin am weißen, cis-männlichen, heterosexuellen, nicht behinderten Körper. Merkt man das? Diskriminierung findet überall im Gesundheitssystem statt, viele Ärzt*innen und Therapeut*innen sehen und verstehen immer noch nicht die Zusammenhänge zwischen Diskriminierung und Krankheit (sowohl psychisch als auch physisch) und natürlich denken viele auch, dass sie überhaupt nicht diskriminierend gegenüber Patient*innen sind.
Wenn ein Mensch aber extrem privilegiert und unreflektiert ein Studium mit dazugehöriger Ausbildung zur*m Psychotherapeut*in macht, dann kann es sehr gut sein, dass dieser Mensch die Erfahrung von Menschen weiter ins negative rückt. Denn auch Psychotherapeut*innen sind einfach nur Menschen und eigentlich in der Lage, selbstreflektiert zu sein. Eigentlich. Dass es nicht der Fall ist, wissen wir aus vielen Erfahrungsberichten. Vielen Psychotherapeut*innen fehlt ein rassismussensibler Umgang mit Patient*innen. Und auch Menschen mit anderen Lebensrealitäten, sei es aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Geschlechtsidentität aber auch Armutserfahrungen, Wohnungs- oder Obdachlosigkeit, Körpergewicht oder Behinderung erfahren in Therapiesitzungen Diskriminierung.
Nicht nur, dass durch die erschwerten Bedingungen nicht viele die Möglichkeit haben, psychologische*r Psychotherapeut*in zu werden. Denn dafür braucht es gute Noten, Zeit und Geld. Gleichzeitig fehlen ausreichend Kassensitze, damit Menschen überhaupt Psychotherapie in Anspruch nehmen könnten. Denn wer hat Mal eben knapp 120 ,- € pro Sitzung (im Durchschnitt je nach Therapieform) zur Verfügung? Und natürlich auch eine komplett überarbeitete, diskriminierungssensible Ausbildung von zukünftigen Therapeut*innen.
Geheilt oder Rückfällig? Der Wunsch, kein Ballast zu sein
“Ist denn nicht auch irgendwann mal gut? Du kannst nicht ewig depressiv / traumatisiert / XYZ sein.”
Das gebrochene Bein zieht sich als ständiges Beispiel durch diesen Text, denn während ein gebrochener Knochen ein Heilungsprozess durchgeht. Nach dem Heilungsprozess ist in den besten Fällen nichts mehr davon zu merken. Wir können wieder laufen, das Bein belasten, Freudensprünge machen.
Bei psychischen Erkrankungen ist das meist nicht der Fall. Völlig “geheilt” bist du nicht. Wobei dir Psychotherapeut*innen und Psychiater*innen helfen können, ist, wieder Teil der Gesellschaft zu sein. Was auch wieder unter dem kapitalistischen Aspekt der Wiederkehr der Leistungsfähigkeit getan wird.
Aber wenn wir durch das System krank werden und wir das System nicht ändern können, können wir nicht vollständig von den Symptomen geheilt werden, die dieses System verursacht haben. Was uns bleibt, sind Copingstrategien. Hilfsmittel, mit denen wir selbst besser durchs Leben navigieren können. Während wir einsehen müssen, dass die Welt, in der wir leben, leider nicht in den nächsten Jahren schlagartig besser wird.
Wir wissen, die stigmatisiert das Thema ist. Egal ob in den Medien, auf Lohnarbeit, in unserer Bubble oder bei unserer (Wahl-)familie. Es hinterlässt einen hilflos und einsam zurück. Denn wir haben in solchen Situationen kaum bis gar keine Räume mehr, unsere Verletzlichkeit zuzulassen. Uns fehlt die Möglichkeit, sichere Orte zu schaffen, in den wir nachdenken können. All das belastet unsere Lebensrealitäten zusätzlich.
Es ist ok, sich nach jahrelanger Therapie wieder schlechter zu fühlen. Es ist ok, wenn die Belastungsgrenze wieder so nah gekommen ist, dass sich alles schwer anfühlt. Dass man nächtelang weint und sich verlassen fühlt. Dass man gefährlich nah an den Coping Mechanismen dran ist, die man eigentlich noch vor einiger Zeit erfolgreich abgelegt hat. Dass vieles einfach unglaublich schwer wird. Egal ob das Aufstehen, der Hausputz oder das bloße Existieren. Es ist ok. Auch wenn wir es uns anders wünschen. Wenn wir uns wünschen, dass es endlich aufhören könnte. Endlich wieder “gesund” zu sein. Bei manchen mag es der Fall sein und sie fühlen sich so gut wie nie so wie damals. Andere Menschen werden vielleicht ihr Leben lang mit den Symptomen ihrer Erkrankungen begleitet werden. Und müssen lernen, damit klar zu kommen. Was einfach f*cking unfair ist.
Wir müssen anerkennen, dass wir, als Menschen mit psychischen Erkrankungen, leider langsam und stetig dafür kämpfen müssen. Dass wir anderen Menschen erklären müssen, dass wir trotz und auch völlig unabhängig von unserer vermeintlichen Leistungsfähigkeit Teil dieser Gesellschaft sind. Dass wir ein Recht darauf haben, entsprechend versorgt zu werden. Dass wir ein Recht haben, respektvoll versorgt zu werden. Dass wir das gesamte System hinterfragen und endlich umstrukturieren müssen.
Was wir auch lernen müssen, und das ist die meiner Meinung nach härteste Herausforderung: Gnädiger mit uns selbst sein. Unsere Trauer, Hilflosigkeit und alle anderen Gefühle anerkennen. Wir dürfen aussprechen, dass die Dinge, die vielleicht zu unserer Lebensrealität geführt haben absolut unfair waren und es darf uns niemand diese Lebensrealitäten und Erfahrungen absprechen. Müssen anfangen oder weiter machen, liebevoller mit uns selbst zu sprechen. Ich bin bei weitem nicht das beste Vorbild dafür und ich kann mir vorstellen, für viele andere ist das auch schwierig.
Wir dürfen auf keinen Fall aufhören mit anderen Menschen zu sprechen. Irgendwo haben wir alle Menschen, selbst wenn es weniger als eine Handvoll ist, denen wir nicht egal sind. Die sich wünschen würden, dass wir mit ihnen reden anstatt alleine zu sein. Darüber, was in unseren Köpfen und unseren Körpern vorgeht. Unsere eigene Menschlichkeit und Verletzlichkeit zeigen. Wir dürfen nicht aufhören Teil dieser Gesellschaft zu sein. Denn auch wir sind wertvoll mit unseren individuellen Erfahrungen.
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