Tränen um eine Heimat, die keine offenen Arme für dich übrig hat
Das Leben zwischen zwei Grenzen, zwei Pässen, zwei Welten und dem ständigen Stehenbleiben auf der Schwelle
TW: Trauma, Andeutungen von Gewalt, Gewalterfahrungen
Heimat kann alles sein. Der Geruch im Supermarkt, der anders riecht als in jedem anderen Supermarkt auf der Welt. Das Essen, mit dem du jahrelang aufgewachsen bist. Die Heiligabende, an denen du stundenlang Pierogi und Uszki gefüllt und zusammengeklebt hast, um dich dann wie immer am heißen Barszcz zu verbrennen, den du gierig verschlungen hast. Die Sprache, die dir so viel leichter über die Lippen geht als die, die du für die Schule und die Briefe deiner Eltern lernen musstest. Auch wenn du sie sprechen kannst, dein Akzent macht dich unverwechselbar. Die Musik aus dem Radio, das deine Großmutter jeden Morgen in der kleinen Küche mit dem Gasherd einschaltete, schon um fünf Uhr morgens, wenn sie auf dem Weg zur Schneiderei war und noch das Frühstück für die Familie vorbereiten wollte. Heimat kann Familie sein. Wenn man noch eine hat.
Heimat kann sich auch anfühlen wie der heiße Kopf eines Kerzendochtes, der gerade noch brannte und den du lässig mit Daumen und Zeigefinger zerdrücken wolltest. Und doch verbrennst du dich jedes Mal, verzieht das Gesicht, wenn du der kleinen Flamme zu nahe kommst. Aber wie kann so etwas Kleines so weh tun? Du hast es doch schon so oft versucht.
Heimat ist wie ein vergriffenes Stück Papier mit ein paar Namen drauf. Ein verblichenes Foto. Eine Erinnerung, die grau und dunkel in den Furchen deines Gehirns wartet. Ein Nebel vor deinen Augen. Du versuchst zu greifen, nach etwas, was du im Nebel vermutest, dich festzuhalten. Vergeblich. Denn es ist nicht mehr da, egal wie sehr du danach suchst. Je älter du wirst, desto schmerzhafter klammerst du dich an die stechenden Erinnerungen. Es ist, als würdest du jedes Mal, wenn du vergisst, was passiert ist, dich wieder an den Dornen stechen.
Wie fühlst du dich, wenn dein Land dich nicht will? Was bedeutet überhaupt “dein Land”? Du hast ja zwei Pässe. Das zeigt doch auch nur, welches Land einen Besitzanspruch auf dich hat. Was nützen dir zwei Pässe, ganz ehrlich, wenn du dich hier wie dort fremd fühlst. Zumindest glaubst du das, weil du mit dem Gefühl aufgewachsen bist, nie gut genug zu sein.
Man fällt nicht auf, wenn man in der Menge untertaucht. Du kannst die Aufschriften auf den Konservendosen in den Supermarktgängen lesen. Von der Lokalpolitik verstehst du auch nur halb so viel. Bist nicht täglich drin. Aber das macht nichts. Du weißt, welche Popstars sich geoutet haben. Du kennst auch all die queerfeindlichen Sprüche, die immer noch an Häuserwände geschmiert werden. Auch in deiner Heimatstadt.
Wenn du länger mit Leuten sprichst, merken die Leute das. Du bist nicht von hier. Das rollende R fällt dir schwer, obwohl du grammatikalisch über keinen Stein stolperst. Huch. Und dein Vokabular. Auch mit Zertifikat der Hochschule hast du den Wortschatz eines Teenagers.
Du bist nicht von hier. Ganz gleich, was du für einen Pass hast. Ganz gleich, wie dein Name lautet, woher deine Eltern kommen. Woher sie WIRKLICH kommen.
Du erinnerst dich an die Besuche bei der Familie. Einmal im Jahr. Mindestens. Manchmal sogar in jedem Urlaub. Die langen Busfahrten mit all den fremden Leuten. Manchmal waren auch andere Kinder dabei. Dann hat das Buspersonal auch mal einen Kinderfilm gezeigt. Du erinnerst dich sowieso nur daran, dass Shrek 1 lief. Immer. Deshalb findest du es auch komisch, wenn er auf Deutsch oder Englisch läuft. Und die Reisetaschen waren immer bis zum Rand vollgepackt. Natürlich hatten wir auch immer Geschenke dabei. Es gehörte sich so. Und deutsche Produkte. Ariel Waschmittel, in der größten Pappschachtel. Und natürlich Kaffee (Nescafe als Instantkaffeekrümmel). Wir wussten damals, dass die Produkte aus Deutschland eine viel bessere Qualität hatten als das, was für die polnischen Supermärkte produziert wurde. Zumindest sagten das die Erwachsenen ständig.
Das stundenlange Warten an der Grenze, bis die Grenzpolizei wirklich alle Pässe kontrolliert hatte. Die wartenden, müden Körper, die teilweise schon über 10 Stunden im Bus saßen. Und dann begann das Schütteln, das sich tief in der Magengrube fortsetzte, denn die Straßen ab dem Grenzübergang waren schrecklich. Löcher im Asphalt, alle größer als dein kleiner Kopf. Aber du wusstest, es war ab dann nicht mehr weit. Ihr seid immer in den frühen Morgenstunden angekommen. Du warst so aufgeregt, dass du nicht schlafen konntest. Dein unruhiger Magen ließ es auch nicht zu, denn damals warst du noch ganz arg reisekrank. Egal. Du wolltest die erste Person sein, die die Familie am Busbahnhof sieht.
Wie du dich immer gefreut hast, wenn du frühmorgens mit deiner Großmutter auf den Markt gehen konntest, wenn alle anderen noch schliefen. Du wolltest sie nie alleine gehen lassen. Allen war klar, dass deine Großmutter nie Hilfe annehmen wollte. Nicht beim Putzen, nicht beim Kochen und schon gar nicht beim Einkaufen. Wenn du da warst und dann auch noch mit ihr aufgestanden bist, dann hattest du Glück. Für dich hat sie gerne eine Ausnahme gemacht. Sie nahm dich mit, in den frühen Morgenstunden polnischer Sommertage, wenn die Stadt schlief. Die alten Straßenbahnen, die mitten auf der Straße hielten und nur vereinzelt durch die Straßen quietschten. Natürlich seid ihr den ganzen Weg zu Fuß gegangen. Ein Einkauf für die ganze Familie ?! Umso wichtiger war es, dass du sie begleitest. Warum sollte sie all die Säcke mit Kartoffeln, Sellerie, Petersilie, Tomaten, Bohnen und Kräutern allein tragen? Du warst immer dabei und hast geschaut. Wie sie wusste, bei wem es die leckersten Kartoffeln gab. Die frischesten Tomaten. Sie hat immer wieder erklärt, in einfachen Sätzen, worauf sie achtete, welches Gemüse gerade frisch geerntet wurde.
Und dann seid ihr zusammen zurückgelaufen, mit so vielen bunten, fast hauchdünnen Plastiktüten. Als hättet ihr riesige Murmeln an den Händen.
Was ein Coming-out und die unendliche Scham, die Familie nicht glücklich gemacht zu haben, alles mit sich bringen kann, nicht wahr? Warum hast du nicht einfach die Klappe gehalten und Medizin oder Jura studiert? Vielleicht hätte ein anständiges Studium deine Queerness weniger schlimm für deine Familie gemacht.
Und du hast immer geglaubt, dass alle Kinder geschlagen werden. Weil du dachtest, dass das normal ist. Vor allem, wenn sie nicht gut genug waren, so wie du. Und weil du immer so viele Fehler gemacht hast, hast du Schläge bekommen. Egal, wie oft du gebettelt hast, dass es aufhört. Irgendwann hast du einfach geglaubt, dass das richtig war. Das hat dir deine Mutter auch gesagt. Deshalb hast du nie jemandem davon erzählt. Und weil sie sich nie dafür entschuldigt hat.
Na ja, auch deine Schuld, aber was soll's. (Vielleicht auch nicht deine, aber wen interessiert's?) Gut, dass die Krankenkassen hier für sowas bezahlen, oder? Mit Humor atmet es sich gleich viel leichter. Vergiss nicht, dein Dopamin ist wieder im Keller. Scroll nochmal über ein paar Meme-Seiten auf Insta bevor du einschläfst. Zumindest spürt man die Dornen um die Erinnerungen nicht so stark, wenn man sie wegdrücken will.
Die Autobahnen werden jetzt von der EU finanziert. Das weißt du. Die Fahrzeit hat sich verändert, seit dein Heimatland zum Schengen-Raum gehört und man nicht mehr stundenlang an der Grenze warten muss. Dein Magen macht nicht mehr so viel Ärger wie früher. Aber trotzdem fühlt sich alles komisch an. Warum versteht niemand in deiner Familie deinen Wunsch nach Selbstbestimmung? Wo die bedingungslose Liebe? Am Ende zählt doch nur die Familie. Die Familie steht über allem und jedem. Oder?
Wo das Eingeständnis von Fehlern? Warum. dieses. Schweigen. Stattdessen grüßen sie mit Blicken. Zu deinen Haaren, deinem Aussehen. Ein Glück, dass sie nichts von deinen Piercings und Tattoos wissen. Eine Schande. Und stattdessen jetzt absolute Funkstille. Für deine Gesundheit. Die du so viele Jahre vernachlässigt hast.
Du hast einen zweiten Pass, aber weißt nicht, was du diesem Land bieten kannst, was dieses Land für dich bieten kannst, allen voran ein Gefühl von Heimat.
Vielleicht ist diese Heimat für dich verschlossen. Vielleicht, weil du queer bist und es nicht mehr aushältst. Vielleicht, weil deine Familie einfach nicht akzeptieren wollte, dass du den Kreislauf durchbrechen wolltest und es auch geschafft hast. Alleine. Weil du nicht mehr schweigen konntest. Vielleicht, weil du durch die kilometerweite Entfernung den Kontakt verloren hast. Die Telefonate, wie früher, mit dem Kabeltelefon im Flur, wo die ganze Familie einmal miteinander telefonieren musste, die gibt es nicht mehr, seit du von zu Hause weg musstest. Die Briefe aus der Heimat öffnest du nicht, auch wenn sie über den Nachsendeauftrag der Post wieder zu dir in deine neue Wohnung gefunden haben. Ein bisschen hast du gehofft, sie würden sich auf dem Weg zu dir in den Händen und Fließbändern verlieren. Irgendwie holt dich alles ein. Du bekommst kaum noch Luft und verkriechst dich in den Ecken deiner Wohnung. Hier ist es sicher. Hauptsache sicher, oder? Über 30 Jahre hast du darauf warten müssen.
Freu dich doch mal.
Heimat ist wie ein sehr vergriffenes Foto. An den Ecken leicht vergilbt. Unten rechts ein Wasserfleck. War es Tee oder waren es doch deine Tränen, die du vergeblich vergossen hast auf der Suche nach deinen guten Erinnerungen? Weil du dich nach all den Jahren immer noch verloren fühlst. Mögen sich deine Tränen in den Händen deiner Lieben wiederfinden, wie sie deine nassen Wangen streicheln.
Hör auf, alles für dich zu behalten. Du brauchst niemandem deine Stärke zu beweisen.
Vielleicht musst du eine neue Heimat aufbauen. Deine eigene.
Freu dich auf diese Chance. Wirklich.
Inspiration für diesen Text war unter anderem der Song DtMF von Bad Bunny aus dem Album DtMF.
From Mizeria With Love
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- Samson