Liebesgedichte bei Nacht in Leipzig-Connewitz
Von einer sich auflösenden Anonymität zu einer vertrauten Intimität über Social Media und die Liebe zu Freund*innen
Ich habe immer wieder einzigartige Begegnungen im Internet. Es gibt unzählige Social Media Kanäle, Chatrooms, Foren. Meistens immer sehr flüchtig, so viele sind massiv busy und gleichzeitig haben wir unendliche Möglichkeiten vor uns.
Haben nur im Sprung Zeit, ein paar Nachrichten zu beantworten und dann ist manchmal wieder Stille. Und ja, ich habe viel mehr Kontakte, die im Sande verlaufen, als was ich letztes Jahr in Leipzig-Connewitz erlebt habe.
Für viele ist das Internet auch eine Quelle für Kontakte geworden. Gleichgesinnte, die man sonst nie auf der Straße treffen würde. Weil sie in einer anderen Stadt leben. Oder vielleicht auch, weil es einfacher ist, mit sozialen Ängsten umzugehen.
Wir, er und ich, haben uns über unsere gemeinsame Bubble kennengelernt, Queers, die gleichzeitig queerfeministisch denken und aus Polen kommen, gibt es nicht so viele. Und ja, es gibt auch Queers, die nicht queerfeministisch unterwegs sind, was eigentlich ein Widerspruch in sich sein sollte, aber so ist das manchmal mit Selbstbezeichnungen. Erst vor zwei Jahren habe ich hier mit einer lokalen Gruppe gebrochen, die sich zwar queer nannte, aber aus ihrem Rassismus, ihrer Non-Binärfeindlichkeit und ihrer Fettfeindlichkeit keinen Hehl machte. Und sonst gab es keine Anknüpfungspunkte an meine Lebenswirklichkeit.
Social Media sei Dank, denn zumindest im Internet fand ich den fehlenden Anschluss wieder. Auch dort waren die Menschen über mehrere Städte verstreut. Er wohnte tatsächlich in Leipzig, was mich schon ein wenig neidisch machte. Er war also deutlich näher an der vermeintlichen Heimat als ich.
Es stellte sich heraus, dass ich nach Leipzig fahren sollte, für meine Arbeit. Also schrieb ich ihm und fragte, ob wir uns treffen könnten. Er sagte sofort zu und meinte, er müsse noch Wahlplakate in Connewitz aufhängen und wenn er damit fertig sei, könnten wir uns treffen.
Tatsächlich passte es am frühen Abend vorher und wir vereinbarten eine Zeit und einen Ort. Zum Glück gibt es Online-Karten im App-Format, so dass ich mich schnell zurechtfand.
Als wir uns trafen, war es zunächst seltsam. Welche Sprache sprechen wir? So unsicher, wie ich manchmal sein kann, gab ich zu, dass ich zwar Polnisch spreche, aber meine Aussprache und mein Wortschatz vielleicht nicht perfekt sind. Er beruhigte mich und überraschte mich mit der nächsten Frage: Welche Pronomen benutze ich im Polnischen? Da ich kaum mit Menschen in dieser Sprache spreche, ist mein Ich in dieser Sprache auch woanders als mein Ich in Deutsch oder Englisch. Gleichzeitig ist das Gendern vergleichsweise schwieriger als im Deutschen, weil im Polnischen auch Verben vertauscht werden.
Wir sprachen darüber, was eine Sprache mit einem Selbst machen kann und wie unterschiedlich die Bedeutung der Anrede in einer Sprache sein kann. Während wir im Englischen einfach auf das neutrale they / them umsteigen können, ist es im Polnischen zwar möglich, neutral zu sprechen, aber viel anstrengender, weil man die Sätze so bauen muss, dass man keine Wörter verwendet, die man für sich selbst gendern muss. Oder man versucht es im Neutrum, aber das kann auch distanziert wirken. Wir versuchen also, uns in Sprachen zurechtzufinden, die nie Platz für Lebensrealitäten wie unsere hatten. Aber das macht nichts.
Wir sind durch Connewitz gelaufen, ich kannte mich dort nicht aus und hatte das Glück, dass ich ihm den Weg zeigen konnte, während wir uns unterhielten. Wir sprachen über Queermed (meine gemeinnützige Organisation), über das Leben in Deutschland, über die politische Situation. Die Wahlen in Sachsen standen vor der Tür. Wir waren uns einig, dass die Städte in Ostdeutschland sehr oft an die Heimat erinnern. Diese breiten Bürgersteige, die gleichzeitig für alles mit Rädern absolut ungeeignet waren. Die vielen alten Häuser. Ich war wieder so nah an der Heimat, die ich schon fast vergessen hatte.
Nach einem Abstecher zu einem Kiosk setzten wir uns in einen Park. Es war noch warm, die Sonne schien noch einige Stunden.
Unsere Gesprächsthemen schienen sich mit jedem zweiten Atemzug zu ändern. Ich merkte, wie sehr mir solche Gespräche fehlten. Da wir über Themen aus Deutschland sprachen, benutzten wir immer wieder deutsche Wörter in polnischen Sätzen. Arbeitsamt ist einfach eingängiger, wenn man auch das Arbeitsamt in Deutschland meint. Und während wir so über die Themen stolperten, kamen wir uns auch näher. Wir haben uns unsere Geschichten erzählt. Wie unsere Eltern auf unsere Queerness reagierten, wie wir unser Leben meisterten. Wie wir auf Queerness in Polen reagierten und wie es doch so anders war als hier. Und doch Gemeinsamkeiten hatten, an denen wir uns beide aufrieben.
Ein wir im Schatten der Nacht
Wir konnten nicht aufhören zu reden. Was wir getan haben, als wir mit unserem Leben nicht zurecht kamen. Dinge, die passieren, wenn man sonst nicht über Suizidgedanken und Traumata spricht. Dinge, für die man sich sonst schämt. Ein bisschen einsamer als vorher. Beide fremd in einem Land, das ohnehin seit Jahrhunderten Vorurteile gegen Menschen aus Polen hegt, erst recht, wenn man an den Holocaust denkt. Auf der Straße würden wir nicht auffallen. Ich würde mit meinem Namen und meinem Pass auffallen. Er schon, sobald er den Mund aufmacht. Trotzdem reichte es meistens nicht, egal wie sehr wir uns um “Integration” bemühten, was auch immer das bedeutete.
Wir sprachen darüber, wie es ist, als queerer Mensch in Polen zu leben und welche Erfahrungen wir hier teilen. Zwischen den Grenzen, auf der Suche nach einer Verbindung. Auf der Suche nach einer Verbindung zwischen den ständig düsteren Nachrichten, den Hasskommentaren und ohne Familie, was auch immer wir unter Familie verstehen.
Wir sprachen über Dinge, holten Erlebnisse und Erinnerungen hervor, traumatische und schöne, so wie andere über ihre Hobbys oder alltägliche Dinge sprachen. Wir erreichten eine Ebene der Vertrautheit, erkannten uns in dem Schmerz, den wir erlebt hatten. In vielem, an dem wir glaubten, fast zerbrochen zu sein. In diesen Stunden gab es keine Scham, keine Scheu, keine Versuche, uns an irgendwelchen unbedeutenden Erfolgen zu messen. Wir versuchten auch nicht, uns in unseren Traumata zu überbieten.
Wir sahen uns im Schmerz als eine gemeinsame Erfahrung. Wir sagten: “Ich sehe dich, weil mir das Gleiche passiert ist”. Es gab keine Anmaßung, keinen Spott, keine Irritation, nur offene Augen und Ohren.
Es wurde dunkler und dunkler, der Park war spärlich beleuchtet, kein Mond schien über uns. Unsere Konturen verschwammen im Grau und Dunkelblau der hereinbrechenden Nacht. Die Kälte der Nacht erschreckte mich, denn ich hatte sie nicht erwartet. Die Köpfe einander zugewandt, sprachen wir so leise und sanft miteinander, als würde die Nacht unsere Stimmen verschlucken. Wir suchten so oft nach Worten, dass wir inzwischen Englisch als dritte Sprache einluden, weil wir nach Worten suchten, die in den beiden anderen Sprachen nicht so recht passen wollten. Sie passten nicht so gut zu dem, was uns zur Verfügung stand. Wir brauchten eine dritte Sprache als Ausgleich und als neue Schatzkiste, um sie uns gegenseitig zu schenken. Um uns näher zu kommen.
Er wusste, dass ich auch Gedichte schreibe und fragte mich eines Tages, ob er mir etwas vorlesen dürfe. Er hätte etwas für seinen Freund geschrieben, aber der wüsste noch nichts davon. Ich fühlte mich geschmeichelt, dass er diesen Schatz mit mir teilen wollte und hörte ihm zu, wie er die Zeilen leise von einem Smartphone vorlas.
Ich verriet ihm damals nicht, dass ich wegen meiner Müdigkeit und seiner leisen Stimme nicht jedes Wort verstehen konnte, aber ich spürte seine Liebe in der Welle seiner Stimme, die mich mit jeder Silbe erreichte. Worte, gesammelt, um die Gefühle auszudrücken, die wir für die Menschen empfinden. Kleine Geschenke, überreicht. Und ja, in den Worten der Liebe schwingen auch unsere Ängste mit. Denn einer der größten Schmerzen entsteht, wenn unsere Liebe nicht erwidert wird.
Wie können wir in der Sprache der Liebe die Worte finden, die unser Gegenüber versteht. Wie können wir Wörter finden, die absolut gleichwertig sind zu dem, was wir in uns spüren?
Wie können wir unsere Ängste überwinden, um die größte Liebe zum Vorschein zu bringen? Auf ein Podest zu heben oder in die Glut eines Leuchtturms. Dass wir uns auch aus der Ferne anstrahlen können. Dass wir uns bei jedem Blick in die Ferne vergewissern können. Ja, diese Liebe ist noch da. Sie brennt weiter. Für dich und für alle anderen, die ich meine Liebe darreichen möchte. Auch wenn ich dich nicht in die Arme schließen kann. So schmerzhaft schön die Liebe ist, wir zeigen sie viel zu wenig. Im Nachhinein mag man bereuen, dass man sich nicht öfter gesagt hat, wie viel man einem bedeutet. Wie sehr die Liebe Und damit meine ich nicht nur die Liebe zwischen Verliebten.
Wann war das letzte Mal, dass wir unseren Friends sagten, wir lieben sie? Wann war das letzte Mal, dass wir ihnen unser Herz ausschütteten. Wann fing uns das letzte Mal die Liebe anderer auf?
From Mizeria With Love
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- Samson
Danke für den Text <3