Körpersprache
Von Körpern, Betrachtungen und betrachtet werden. Ein Gefühlsgang durch Beobachtungen.
Seit ich in der neuen Wohnung bin, habe ich einen Spiegel in meinem Schlafzimmer. Und in meinem Flur. Und ich habe einen Badezimmerspiegel, der zu meiner Körperhöhe passt.
Noch nie habe ich mich so häufig in einem Spiegel betrachtet, wie in den letzten 4-5 Wochen, letzten zwölf Monaten. Oder wie in den letzten zwei oder drei Jahren.
Meistens vermied ich den Blick in den Spiegel. Prüfte nur, dass keine Rest von Zahnpasta an meinen Mundwinkeln klebte. Irgendwann änderte sich das im Lauf der Jahre. Die erste Veränderung traf ein, als ich einen sogenannten Männerhaarschnitt bekommen habe. Bekommen durfte. Wobei es einfach nur ein Kurzhaarschnitt ist. Ein Haarschnitt. In kurz.
In einem kleinen Laden, wo sich die Friseurin lächelnd und zuversichtlich nickend meinem Wunsch annahm. Wo sie mir zuhört. Und ja sagte. Und auf meinen Wunsch einging. Ich spürte keine Scham und gehe seitdem nur noch dort hin. Immer zu ihr.
Eine angenehme Stille füllt sich in meinem Kopf, wenn ich dort bin. Ich kann und möchte mit meinem Körper dort sein. Sichtbar sein. Mich nicht lösen und abwarten, bis es vorbei ist. Jeden Moment, wollte ich mit meinen Augen einfangen. Wie ich geschaffen wurde. Die Metamorphose zu dem, wovon ich anscheinend träumte.
Die Seiten auf zwei Millimeter mit der Maschine runterrasiert, mit einem sanften Übergang hinauf zur Schädeldecke. Das Wachs in meinen Haaren, welches einen schwach süßlichen Geruch hat. Und eine riesige Ladung Dopamin in mir ausschüttet. Wie Honig. Honig auf meinem Kopf, der langsam durch meine Haarspitzen aufgesogen wird. Ich fühle mich wie auf Droge. Unbesiegbar. Stark. Sogar schön.
Ich bleibe einen Moment vor dem riesigen, kreisrunden Frisierspiegel stehen, der jedes Mal viel zu schnell vorbei geht, bevor mich meine Friseurin mit meiner Jacke an der Kasse empfängt. Meine Fingerspitzen gleiten über meine Haare, meine Augen folgen ihren Bewegungen wie in Trance. Bin ich das?
Ja, jetzt bin ich wieder ich. Wie seltsam. Wie einfach. Ein neuer Körper? Der gleiche Körper, mit neuen Gefühlen?
Wenn ich mir die Haare hab schneiden lassen, dann schaue ich mich sogar bewusst an. Vom ersten Tag an, nachdem ich den Salon verlassen habe. Ich starre mich an, schaue mir dabei zu wie ich mit meinen Fingern meine Haare an den Seiten meines Kopfes berühre, die mit der Maschine auf zwei Millimeter runterrasiert wurden. Ich schaue mich an, wenn ich an den Spiegeln in meiner Wohnung vorbeigehe. Ich schaue mich beim Händewaschen an. Ich schaue mich beim Zähneputzen genau an. Eine Hand an meiner Zahnbürste, die andere in meinen Haaren. Ich liebe das Gefühl meiner Haare mit dem Wachs. Es ist so weich. Ich bin das. Ich bin weich. Ich möchte weich sein. Ich mache Selfies von mir. Fange mich ein, wie ich mich liebevoll anschaue.
Oder zumindest sage ich mir das. Denn ich weiß auch, wie häufig ich über meinen Körper richte.
In den zufälligen Phasen, wo mein Training gut läuft, meine Ernährung auch so wie es für mich am besten ist und meine Muskeln deutlich zum Vorschein kommen…fühle ich mich….begehrenswert?
Ich kann es nicht genau beschreiben, denn ich weiß nicht genau, wie es ist, wenn man sich begehrt fühlt. Wieso benutze ich das Wort? Mir entsteigt das Konzept des Begehrens aus dem Kopf, denn ich verstehe es nicht ganz. Es ist klar, was mit einem körperlichen Begehren gemeint ist. Aber das Begehren mir selbst gegenüber. Dass ich etwas in einem Spiegelbild erkenne, wovon ich nicht dachte, dass es existieren würde. Dass ich es wiedersehen will. Dass ich es die ganze Zeit sehen will. Ich will mich so sehen. Ich will das andere mich so sehen. Ist das Begehren?
Es waren nie Worte von Fremden, oder Männern, die mich am meisten verletzten. Dafür waren es die Worte meiner Eltern, hasserfüllt, voller Ekel. Wie ich aussehen würde, wie ich essen würde, wie ich schauen würde. Jeder Akt in dieser Welt wurde bewertet und für ungenügend deklariert. Würden mich meine Eltern jetzt noch wieder erkennen?
Bin ich privilegiert, dass ich keine Beleidigungen von Männern kriege? Und, wenn ich sie von anonymen Kerlen aus dem Netz erhalte, dann spüre ich völlige Gleichgültigkeit. Weil mir deren Worte gleichgültig sind. Weil mir deren Begehren gleichgültig ist. Ich suche nicht ihre Bestätigung, also können ihre Worte auch nicht verletzen. Wie leicht sich diese Worte schreiben. Wie töricht fast schon.
Und dann, um den Widerspruch im Kreis zu schließen, weiß ich nichts mit Komplimenten anzufangen. Zumindest an mich gerichtet. Ich bedanke mich, ehrlich, aufrichtig. Nur, spüre ich, dass sie nicht in mir ankommen. Keinen Platz finden, in mir rastlos wandern, sich wieder ablösen wie ein Aufklebetattoo. Ich wünschte ich könnte sie einfangen, einkleben in ein Buch. Damit ich auf sie zurückgreifen kann, wenn ich verstanden habe, wie ich mit ihnen umgehen kann.
Ist es nicht amüsant, dass ich gleichzeitig in den Spiegel schauen kann und behaupten kann, mich begehrenswert zu fühlen, während ich dieses Begehren nicht aktiv von außen suche? Vielleicht ist es der Zusammenschluss, dass ich die Worte von außen so wenig verstehe und bisher nur meine Selbsterkenntnis habe? Eine Erkenntnis, die ich jahrelang einüben musste, um zu verstehen, was in mir vorgeht, was mit mir passiert ist und was mit mir passieren soll?
Mit meinem Körper ist es wie mit dem Wellengang auf hoher See. Meine Zustimmung und Ablehnung mir selbst gegenüber schwanken, teilweise wild, teilweise seicht. Manchmal begegnet mir eine Phase voller Ruhe und Gelassenheit. Manchmal kämpfen meine Gedanken und ich als wäre ich Moby Dick. Und gleichzeitig Captain Ahab? Zwei Monster schlagen in meiner Brust. Und sorgen für eine Unruhe in mir und meinem Körper.
Wellen sind wie Wölbungen. Nach oben, nach unten. Nach innen und nach außen. Wölbungen, die ich auch an meinem Körper sehe. Es gibt Wölbungen, die mich vor mir selbst erschaudern lassen. Und dann gibt es ganz gegenteilige Wölbungen, Spannungen an meinem Körper. Die Hemden und frisch gewaschene Shirts anspannen lassen. Die Rundungen und Wölbungen durch meine Kleidung sichtbar machen. Mein Körper und Teile eben dieses Körpers. Meine breiten Schultern, die die Hemden und Shirts ausfüllen. Mein Bizeps wird immer größer, mein Latissimus, sprich meine großen Rückenmuskeln, lassen meine BHs weiter anspannen. Die ich hoffentlich bald nicht mehr brauchen werde.
Ich trainiere mir den Körper, den ich mir wünsche. Ich erschaffe ihn neu. Bilde ihn aus dem Fundament, welches mir vorliegt. Modelliere ihn aus Ton. Ein Körper, aus einem lang zerflossenen Traum. Keine genaue Skizze in meinem Kopf, nur eine Ahnung. Mit viel Geduld, mit viel Reue, mit neu gefundener Güte. Mir selbst gegenüber.
Mir graut es vor den nächsten Wochen. Und Monaten. Noch einen Sommer aushalten. Sommermonate, in denen ich immer noch einfacher in eine bestimmte Kategorie gesteckt werde. Egal wie breit meine Arme sind, wie breit meine Schultern oder mein Rücken. Egal wie kurz meine Haare geschoren sind. Weil ich keine Kleidung habe, die ich im Sommer tragen könnte und meine Maskerade aufrecht erhält. Für die da draußen bin ich immer noch die eine Kategorie. Das eine Label. Das eine.
“Wenn du deine Mastektomie hattest, kannst du dann auch im Sommer oberkörperfrei rumlaufen. Ist das nicht toll?”
Warum denken die Leute, dass ich das gerne tun würde? Warum ist Nacktheit etwas, wonach gestrebt wird? Warum wird Nacktheit als empowernd angesehen?
Ich sehe die Bilder, auf Social Media, in Kampagnen.
Oberkörper mit Masteknarben. Ein oberkörperfreies Selfie nach dem anderen. Tätoowierungen, die die Narben noch stärker fokussieren. Und Testosteron. Jede neue Einnahme wird gefeiert.
Ist es das was ich brauche? Muss ich diese Freude spüren, muss ich diesen Weg gehen um wirklich so zu sein, wie ich sein möchte? Wo sind die Spektren, von denen wir immer sprechen, warum sehe ich immer noch die große Masse an Menschen, die den einen Weg gehen wollen, die Stück für Stück diesen Weg gehen. Bin ich weniger wie sie, weil ich einen anderen Weg einschlagen möchte? Bin ich weniger wie sie, weil mich die Einnahme von Testosteron nicht reizt? Bin ich weniger wie sie, wenn ich meinen Körper nicht zeigen möchte? Oder auch ohne Fokus auf meine Narben? Ohne das Wachsen eines Flaums? Dem Abfallen meiner Stimme?
Wie ironisch, dass wir Narben feiern und gleichzeitig verteufeln. Wie viel sie bedeuten können, je nach Kontext. Und was sie über unsere Geschichten sagen können. Wir sehen Körper und meinen nicht urteilen zu wollen und doch tun wir es.
Ich kann andere Körper ansehen. Ich hasse andere Körper nicht. Ich sehe sie und bin jedes Mal gnädiger, liebevoller mit ihnen als mir meinem. Ich hasse meinen Körper, weil er meiner ist. Ich hasse meinen Körper, weil er Zeugschaft ablegen kann von dem, was mir fast drei Jahrzehnte meines Lebens passiert ist. Weil jede Handlung, jede Tat, jedes Wort, hat Spuren auf diesem Körper hinterlassen. Mein Körper tut mir leid. Ich sehe meinen Körper in den Spiegeln und möchte ihn gerne umarmen.
Wer meinen Körper kennt, weiß, wo seine Schwachstellen sind. Wo mein Körper einknickt, wo mein Körper Narben einer Vergangenheit zeigt. Banale Narben vom zu schnellen Zunehmen und wieder Abnehmen und wieder schnellem Zunehmen und wieder Abnehmen … Welche Stellen ich an meinem Körper mag. Welche Stellen ich nicht spüren möchte, wenn ich meine Liebsten fest umarme. Weil ich meine eigene Fehlbarkeit spüre. Weil ich Angst habe, dass ich als Hochstapler*in auffalle. Wer kennt meinen Körper überhaupt?
Ich habe mir beigebracht, nur meinen eigenen Körper zu hassen. Und gleichzeitig habe ich versucht mir diesen Hass auszutreiben. Buch um Buch verschlinge ich. Ich lese Studien, verstehe wie Körper aufgebaut sind, wie unterschiedlich wir sind.
Die Nuancen sind so wissenschaftlich, wo der Muskelansatz meines Oberschenkels beginnt. Wie lang meine Beine sind, wie viel Sport meine Familie bisher machte, wie wenig Krankheiten in meiner Familie vorliegen, wie viel Stress, wie viel Geld. Körper zeigen uns gleichzeitig, wie einzigartig und wie schwer wir es in dieser ungleichen Welt haben.
Es ist eine Erleichterung und ein Schmerz zugleich, nicht alles gleichzeitig gut zu können. Und dass man mit einem Körper mit Brüsten und Eierstöcken geboren wird. Werde ich meinen Körper mehr lieben ohne Brüste? Weniger hassen? Ich weiß es nicht, weil ich es mir noch nicht vorstellen kann. Ich höre den Geschichten zu von Menschen, die diesen Weg gegangen sind und spüre ihre Freude, ihre Liebe, ihre Energie. Die Vorstellung klingt traumhaft. Wie wird mein Körper diese Veränderung aufnehmen?
Mein Körper weiß, wie ich mit ihm umgegangen bin. Mein Körper weiß, dass ich es nicht böswillig meinte. Mein Körper weiß um die Strukturen dieser Welt.
Mein Körper gibt. Und gibt. Und gibt.
Mein Körper beugt und biegt und streckt sich. In stundenlangen Sporteinheiten. Muskelaufbau, Hypertrophie, Muskelausdauer, Explosive Bewegungsmuster, Reps in Reserve, Isolierte Muskelkontraktion, Laktatansammlung, Muskelzittern, MaxRep, Proteinzufuhr. Ich spüre die Spannung in meinen Muskeln. In den Oberarmen, in den Brustmuskeln, in meinen Oberschenkeln, in meinem Hintern. Es brennt, wenn ich meinen Körper immer wieder an seine Belastungsgrenzen treibe. Dass ich immer wieder an Trainingsplänen sitze um neue Reize zu finden. Stärkere Reize. Neue Grenzen, die es zu erreichen gilt. Zu durchbrechen. Wenn ich ehrlich mit mir wäre, würde ich mehr Ruhephasen einplanen.
Ruhephasen. Was auch immer diese bedeuten. Das Gegenteil von dem eben Beschriebenen. Zumindest körperlich.
Mein Körper weiß, dass ich für ihn nicht ins Krankenhaus fahre. Weder nach dem tiefen Sturz auf der Baustelle, was meinen Fuß fast zerrissen hätte. Noch nach dem ersten Fahrradunfall. Oder dem zweiten. Oder nach all den Stürzen von einer Treppe. Dass ich mich aus jedem Krankenwagen zerre, bevor ich nachgebe.
Mein Körper gibt. Und gibt. Und gibt. Bis er irgendwann nicht mehr geben kann.
Mein Körper weiß, dass ich mich manchmal klein machen möchte. In die hinterste Ecke meiner Wohnung, zwischen Wand und Couch sich verstecken möchte. Er weiß, dass ich manchmal nicht hier sein möchte. Und gleichzeitig zeigt er mit mit seiner Anwesenheit. “Du bist doch hier.”
Mein Körper weiß, dass ich Stärke will. Mein Körper weiß, dass ich zarte und starke Seiten habe. Mein Körper möchte mir zeigen, wer ich bin. In Momenten völliger Stille. Völliger Gelassenheit.
Als ich letztes Jahr das erste Mal vor einer Kamera posierte, hinter der kein cis-Mann stand, merke ich schon ein Risse in meinem Denken. Denn mit der Kamera in der Hand stand eine Person, die mein Wirrwarr aus Gedanken zusammen setzen konnte. Zu etwas Besonderem. Die verstand, dass ich nicht ein Geschlecht immitieren wollte mit der Kleidung, die ich trug. Mit meiner Gangart, mit meiner Gestik. Die mich fotografierte, wie ich war. Wie ich mich fühlte. Die Augenblicke einfing, in der ein Hauch meiner Selbst zu erkennen war. Etwas, was mir immer wieder zwischen den Fingern entglitt. Bis zum damaligen Nachmittag.
Ich erschrak vor mir als ich mich das erste Mal auf diesen Bildern sah. Stundenlang starrte ich mich sprachlos an. Als hätte ich ein Wunder gesehen, einen Engel vor mir, eine sonderbare Gestalt, von der ich nicht dachte, dass es existieren könnte. Dass ich existieren könnte. Bis meine Augen brannten starrte ich auf die Bilder von mir auf dem Bildschirm. Ich war es. Ich habe mich selbst erkannt. Ecce homo. Ich war dieser Mensch auf den Bildern und es gab diese Wunschgestalt, dieses Traumwesen die ganze Zeit. Und ich steckte in diesem Körper und war zur gleichen Zeit der Körper und das Wesen, welches ich suchte.
Ich möchte mich betrachten. Ich möchte so betrachtet werden, wie ich mich selbst betrachte. Andere sollen mich so sehen, wie ich mich sehe. Sollen erkenne, wie sehr ich mich lieben kann, so wie ich bin. Ohne Kategorien. Ohne Label. Ohne ein “Etwas sein zu müssen.” Nur ich.
Mein Körper gehört mir. Selbstbestimmt möchte ich entscheiden, was ich mit meinem Körper tue. Welche Wege der Transition ich gehe und welche ich meiden möchte. Mit meinem Körper ist es wie mit einem Wellengang. Und ich liebe es mich in der Ambivalenz meines Körpers treiben zu lassen. Die Zweideutigkeit, die Mehrdeutigkeit, die Bedeutungslosigkeit eines Geschlechts als Regen an Fragezeichen in den Köpfen meiner Gegenüber zu sehen. Denn nur, wenn sie sich selbst fragen, was es für eine Bedeutung hat, mich in eine Kategorie stecken zu wollen, werden sie erkennen, dass ihre Liebe für mich keine solche Kategorie brauchen sollte.
Genau so wenig wie ich sie brauche.
From Mizeria With Love
In diesem Newsletter dreht sich vieles um teils persönliche Erfahrungen und wie es ist, migrantisch, queer und mental krank zu sein. Und allem dazwischen. Alles, was immer noch zu unsichtbar scheint.
Wenn dir dieser Beitrag gefallen hat, würde mich ein Like oder ein Kommentar freuen. Ansonsten teile ihn gerne mit anderen.
Bis zum nächsten Mal. Pass auf dich auf.
- Samson
Erschreckend im besten Sinne, weil ich die meisten Gedanken davon kenne….. Ich spüre Dich! Danke für Deinen Text. ❤️
Wieder so ein großartiger Text, ich konnte nicht aufhören zu lesen, du schreibst so herrlich rau und zart zugleich, ehrlich und immer wieder überraschend zwischen den Zeilen.
Ich folge deinen Worten und deiner Reise soo gerne.