"Ich schäme mich"
Über die Scham, mit der man erzogen wurde und der Versuch, sie zu verlernen
Ich liege auf einer Couch in einem anderen Land, verkrochen in Kissen und einer grauen Tagesdecke. Neben mir ein kleiner Couchtisch, auf dem widerum ein Glas Orangensaft steht. Es wirkt nahezu feierlich, weil dieses Glas ein Champagnerglas ist, was ich im Küchenschrank entdeckt habe und ich für den Orangensaft ausgewählt habe. Ich habe doch Urlaub. Gönn’ dir. Entspann’ dich.
Warum rast mein Gehirn immer noch über die Gedankenautobahn und erinnert mich daran, welche Dinge noch zu erledigen sind und wie einfach es wäre, bestimmte Mailprogramme zu öffnen und die Mails abzuarbeiten. Dass ich mal wieder meine Finanzen durchrechnen könnte, um zu sehen, wie viel Geld mir für den Monat nach allen anfallenden Kosten noch übrig bleibt.
Ich tue es nicht. Stattdessen schreibe ich diesen Text, vor dem ich mich lange, aber rechtzeitig gedrückt habe. Es gibt viele Dinge, für die ich mich schäme. Scham ist etwas, das uns von außen auferlegt wird und das uns leider auch schon in jungen Jahren widerfährt. Scham soll uns kontrollieren, soll beeinflussen, was wir tun, wie wir uns in dieser Gesellschaft bewegen, wie wir uns anderen gegenüber verhalten. Was wir anziehen (oder nicht anziehen), was wir essen (oder nicht essen), wie wir aussehen (oder nicht aussehen). Scham folgt keiner Moral oder Ethik, Scham ist reines Judgen. Und die Richter*innen, dass sind alle anderen. Und als Angeklagte*r kannst du bei Scham oft nur verlieren.
“Schäm dich!” kann ausgerufen werden. Aus unterschiedlichen Gründen. Ich weiß nicht, in welchem Alter ich gelernt habe mich zu schämen, aber es war ein stetiger Begleiter in meinem Leben. Und es gibt sehr viele Dinge, wofür ich mich schäme:
Dafür, dass ich gerne mal fast einen ganzen Tag nur im Bett oder auf der Couch verbringe. Dafür, dass ich häufiger als mir lieb ist im Doomscrolling versacke. Dafür, dass ich mit Anfang 30 immer noch nicht meine Finanzen perfekt im Griff habe. Dafür, dass ich in Armut aufgewachsen bin. Dafür, dass ich für meine eigene Mastek ein öffentliches Crowdfunding gestartet habe. Dafür, dass ich nach Geld frage. Dafür, dass ich eine Mastek machen möchte. Dafür, dass ich so eine starke Genderdysophorie spüre, dass es mich daran hindert meine Freund*innen so fest zu umarmen wie ich es gerne würde. Dafür, dass ich Jahrzehnte lang Gewalt in verschiedenen Formen durch die mir engsten Vertrauten Menschen erfahren habe. Dafür, dass ich immer noch nicht meine Essstörung im Griff habe. Dafür, dass ich immer noch zu selten meine Grenzen kommuniziere. Dafür, dass ich aufgrund meines Traumas große Gedächtnislücken zu meiner Vergangenheit habe. Dafür, dass ich an einer Hand abzählen kann auf wie vielen Geburtstagen ich in meinem Leben eingeladen wurde. Dafür, dass ich nicht dankbar genug für meine Eltern bin, die ihre Heimat verlassen haben. Dafür, dass sich meine Mutter jahrelang für uns kaputt gearbeitet hat. Dafür, dass ich sie als Kind nicht genug unterstützt habe. Dafür, dass ich für sie nicht genug perfekte Noten mit nach Hause gebracht habe. Dafür, dass ich kein Jura oder Medizin studiert habe. Dafür, dass ich ihr niemals Enkelkinder geben werde. Dafür, dass sich meine Mutter für mich schämt, dass ich queer bin. Dafür, dass ich mich oft nicht queer genug fühle.
Dafür, dass ich immer noch zu selten eine Praxis von innen sehe obwohl es notwendig wäre. Dafür, dass ich selbst nach Unfällen nicht einmal zur Notaufnahme gegangen bin und mich Menschen danach total schockiert angeschaut haben. Dafür, dass ich denke, ich bin “kaputt” wegen dem was mir angetan wurde. Dafür, dass ich nach und bei dem ganzen Sport immer noch nicht dünn bin. Dafür, dass ich nicht ansatzweise so schön bin wie meine Friends. Dafür, dass ich romantische Gefühle für andere Menschen entwickle. Dafür, dass es irgendwann raus kommt, dass ich gar nicht so toll bin, wie viele von mir denken. Dafür, dass ich innerlich Angst habe, meine Friends finden mich doch alle nur blöd. Dafür, dass ich mich nicht genug in noch mehr politische & gesellschaftliche Themen einlese. Dafür, dass ich mich selbst nach jahrelangem politischem Aktivismus immer noch inkompetent fühle im Vergleich zu anderen. Dafür, dass ich so schrecklich müde bin. Dafür, dass ich oft nicht mehr Kraft habe mehr zu tun. Dafür, dass ich nach jahrelanger Therapie und Lernen immer noch zu wenig auf meinen Körper höre. Dafür, dass ich meine Familie nie stolz auf mich sein wird, weil ich queer bin.
Worum geht es eigentlich bei Scham?
Es geht um viele Ichs. Es geht um Positionen. Ich und die anderen. Darum, wie man sich in bestimmten Räumen bewegt. Wo man sich in diesen Räumen befindet. In welchen Gruppen man sich bewegt. Sich bewegen darf. Wie man Teil einer Gesellschaft ist oder als Teil einer Gesellschaft gesehen wird. Wie man als Mitglied einer Familie gesehen wird.
Wenn wir Scham empfinden, soll uns etwas peinlich sein. Wir wollen diese Situation vermeiden. Wir wollen nicht, dass andere uns in dieser Situation sehen. Wir wollen nicht, dass es Konsequenzen hat. Dass wir nicht gut genug sind, nicht schön genug, nicht klug genug. Dass wir einfach in allem nicht gut genug sind. Und deshalb versagen, und deshalb einsam sind. Und das können vermeintliche Kleinigkeiten sein, das können große Themen sein. Es ist nicht unsere Schuld, dass wir uns schämen. Wir sollten uns nicht schämen. Wenn wir sie spüren, sollte sie uns nicht klein machen, uns nicht schlaflose Nächte bereiten, uns nicht daran hindern, so zu sein, wie wir sind. Sie sollte uns nicht daran hindern, glücklich zu sein. Dass wir nicht der Norm entsprechen. Dass wir so sind, wie wir sind, dass wir lieben, wen wir lieben. Für uns zu sorgen, wie wir es brauchen.
Es ist ein Prozess mit Scham umzugehen. Ihn verhallen zu lassen. Uns lieben zu lernen. Dabei wirkt es während ich es schreibe sehr einfach daher gesagt. Ist es auch. Weil wir die Vorgaben der Gesellschaft, der sogenannten Normen, von uns abstreifen müssen. Stück für Stück.
Leider gibt es dafür keine Anleitung. Auch ich wünschte, es gäbe sowas, die dieses Verlernen einfacher machen könnte. Aber die Spuren, die Scham in uns hinterlassen an, in unseren Körpern und Köpfen, müssen wir schlussendlich aufhören zu begehen. Neue Pfade müssen in unseren Köpfen gehen und erst durch viele Wiederholungen können wir hoffen, dass wir besser damit umgehen können. Irgendwann, werden sich auch die neuen Pfade leichter anfühlen. Es braucht nur diesen ersten Schritt, dieses erste Bewegung in die andere Richtung.
Es gibt viele Dinge, für die ich mich weniger schäme als vor Wochen, Monaten, Jahren zuvor. Es offen anzuerkennen, sich zu schämen, war wohl einer der wichtigsten ersten Schritte in meinem Leben. Der zweitwichtigste, erste Schritt war, etwas daran ändern zu wollen.
Die eigene Identität anzuerkennen. Ihr Raum zu geben, sie zu spüren, sie mit offenen Armen zu umschließen, sich mit ihr weiterzuentwickeln. Sich mit anderen offen darüber auszutauschen wofür man sich schämt. Das ist vielleicht eine der größten Herausforderungen im Leben. Aber ein Leben ohne sich selbst lieben zu lernen, wäre wirklich traurig.
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Hi Sara, ehrlich gesagt hatte ich echt Tränen in den Augen als ich deinen Text gelesen hab. Danke djr für deine Ehrlichkeit, das ist so inspirierend und mutig. Dankeschön für diesen Text!