Gefühle sind wie hohe Wellen, die gegen mein Herz schlagen
Über die stetige Wachsamkeit und der Überforderung der eigenen Emotionen
Wenn ich Gefühle empfinde, ist es oft so, als wäre ich von einer Welle aus warmem und kaltem Meerwasser umgeben. Mir wird heiß und kalt, manchmal zittert mein Körper. Meine Haut kribbelt.
Mittlerweile weine ich auch, wenn mich bestimmte Gefühle innerlich einfach überwältigen. Sei es aus Freude, Angst, Trauer, oder Liebe für andere Menschen. Es ist wie Wasser, das in einem Glas überläuft. Und es hört nicht auf zu fließen, zu überlaufen. Und mein Herz kann nicht alles auffangen. Egal wie sehr ich es versuche.
Bevor ich vor mehr als sechs Jahren meine Therapie begann, fühlte ich in mir meistens nur eine unendliche Wut. Eine Wut, die sich ausschließlich gegen mich selbst richtete. Weil ich dazu erzogen wurde, der Hauptgrund für alles Schlechte in meiner Familie zu sein. Eine Schande, weil ich in ihren Augen nie genug getan habe. Weil ich Queer bin, weil ich die meiste Zeit meines Lebens stark übergewichtig war. Eine Wut, die ich immer wieder an mir selbst ausgelassen habe. Gewaltvoll. Weil ich es in diesen Momenten einfach nicht besser wusste. Mir fehlte das Wissen, die Hilfe von außen.
Gefühle in bestimmten Momenten voneinander zu differenzieren, zu verstehen, welche Gefühle ineinandergreifen, einander überdecken. Warum ich gerade in einem bestimmten Moment Trauer spüre. Warum ich aber diese Trauer nicht zeigen kann.
Lange Zeit hatte ich auch starke Schwierigkeiten, die Emotionen von den Gesichtern anderer Leute zu lesen. Häufig waren sie für mich neutral und distanziert.
“War das Ironie oder ernst gemeint?” war ein häufiger Satz in meinem Kopf.
Auch der schriftliche Verkehr mit Menschen teilweise noch eine immense Herausforderung. Zu verstehen was mit bestimmten Emojis, Emoticons, Aussagen gemeint war. Gemeint ist. Es ist besser geworden, aber je nachdem, wie meine mentalen Kapazitäten sind, merke ich, dass mein gelernten Skills noch nicht eingeschärft genug sind, um auch bei wenig Energie zu funktionieren.
Über Gefühle zu sprechen ist etwas anderes, als darüber zu sprechen, wie viele Bananen gerade in einem Obstkorb liegen. Oder ob das Gras vor uns grün oder vertrocknet gelb aussieht. Gefühle erscheinen auf den ersten Blick völlig irrational. Sie sind nicht fassbar, nicht sichtbar. Wir sprechen ihnen eine Rationalität ab, wie ich gerade geschrieben habe. Ratio und Emotio. Die Vernunft als vermeintliches Gegenstück zur Emotion.
Ich spreche hier nicht von Gefühlsausdrücken. Denn die drücken ja buchstäblich Gefühle aus. Freude soll mit nach oben gezogenen Mundwinkeln signalisiert werden, noch besser, wenn die Augen auch noch Lachfalten an ihren Außenseiten aufweisen. Es gibt die Zornesfalte, die sich zwischen den Augenbrauen bildet, wenn wir das Gesicht zusammenziehen wollen. Tränen fließen, wenn wir trauern.
Das klingt doch eigentlich ganz einfach, oder?
Oder?
Nicht so einfach, wenn man es bereits in jungen Jahren nicht gelernt hat. Weil jede Freude binnen Millisekunden in Wut und Gewalt umschwingen könnte. Jede noch so idyllische Situation hätte sich in eine potentielle Gefahr wandeln können. Ich kenne kein anderes Umfeld als ich aufgewachsen bin. Es gibt kein “davor”, weil es so früh begonnen hat. Sicherlich gab es Phasen, wo Friede und Freude im Haushalt tatsächlich Friede und Freude bedeutet haben. Es waren kleine Sternschnuppen während ich täglich wachsam sein musste. Aufpassen und merken, wenn Reaktionen umschlagen. Wenn die Tür des Küchenregal mit einer leichten Nuance fester zugemacht wird als sonst. Welche Geräusche die Schritte im Flur von der Küche zum Wohnzimmer machten. Welche Fläche des Fußes wurde stärker belastet? War das ein Seufzen? War es Erschöpfung oder Frustration? Diese Momente, die ich in meinem Zimmer abwartete, jedes Mal von meinen Hausaufgaben aufschreckte, in vollster Anspannung, mit dem Blick zur angelehnten Tür. Würde jetzt noch ein Schrei kommen? Würde mein Name wieder geschrien werden? Was habe ich vergessen? Welche Arbeiten wurden zuhause noch nicht erledigt?
Hypervigilanz ist eine typische Ausprägung bei Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörung. Es bedeutete stetige Wachsamkeit. Man könnte es auch beschreiben, und das mag jetzt auch ein Stück weit esoterisch klingen, dass man gelernt hat die Energien der anderen Leute zu spüren. Vor allem bei denen, die man häufiger sieht. Man merkt, dass eine Situation kippt noch bevor darüber gesprochen wird. Andere mögen es vielleicht als das typische Bauchgefühl bezeichnen. Ich weiß, welcher Person ich vertrauen kann, wenn ich einige Minuten neben ihr stehe. Dabei muss nicht einmal ein Gespräch zwischen uns beiden stattgefunden habe. Ich merke, wie die Person auf bestimmte Aussagen oder Situationen reagiert. Aus Selbstschutz. Falls es sich gegen mich richten würde. Damit einhergehend spüre ich in sozialen Kontexten häufig eine immense mentale Erschöpfung, weil mein Kopf mich ständig auf potentielle Gefahrenherde aufmerksam machen möchte. Ich bin überall, nur nicht bei mir selbst. Weswegen ich immer häufiger soziale Kontexte gemieden habe. Und dadurch eine Zeit lang sehr vereinsamt war, obwohl mir Freund*innenschaften sicherlich geholfen hätten, positive Erfahrungen zu sammeln.
Eigentlich klingt das bisher Gesagte etwas widersprüchlich. Gefühle nicht lesen zu können und gleichzeitig hyperfokussiert auf die Menschen um einen herum zu sein. Gefühle voneinander zu unterscheiden ist für mich nicht dasselbe wie Befindlichkeiten oder “Energien” zu spüren. Denn meine Hypervigilanz will mich vor allem auf Gefahren aufmerksam machen. Auf die Spannung, die in einem Menschen vorgeht, noch bevor er offen darüber spricht. Um mich vor Gefahren zu schützen.
Wozu gibt es Hypervigilanz eigentlich?
Außerhalb von Gefahrensituationen ist Hypervigilanz absolut unbrauchbar. Es kostet immense Energien und braucht sehr viel Arbeit an einem selbst, diese Hypervigilanz wieder runter zu fahren. Aber seien wir ehrlich: Die Hypervigilanz verschwindet nicht schlagartig nach über 20 Jahren absoluter Notwendigkeit durch 55 Minuten Psychotherapie pro Woche innerhalb weniger Jahre. Aber der Druck, den die Hypervigilanz ausgelöst hat, ist geringer geworden. Die Erfahrungen, die ich seit meiner Entlassung gemacht habe, haben geholfen. Die katastrophalen, aber vor allem die positiven. Der therapeutische Raum, wo ich immer wieder gefragt wurde, welche Gefühle ich in welchen Situationen habe. Wo ich auch Situationen mitbringen konnte, um mit einer Person darüber zu sprechen, die mir ihre Eindrücke ohne Kontext spiegeln konnte. Der mir geholfen hat, Zusammenhänge zu rationalisieren, Ängste abzubauen, Gefühle zuzulassen.
Menschen, die geduldig mit mir waren. Die meine Fragen beantwortet haben. Auch wenn es sicher nicht einfach war, immer wieder gefragt zu werden: “Wie war das jetzt gemeint? Ich weiß nicht, ob ich das richtig verstanden habe”. Menschen, die offen mit mir und ihren eigenen Emotionen umgegangen sind. Damit konnte ich lernen, meine Hypervigilanz häufig im Hintergrund laufen zu lassen, aber ihr nicht mehr den Raum zu gehen, ihr nicht mehr so viel Energie zu überlassen.
An dieser Stelle tauchen aber meine Gefühle auf. Wieder in ihrem stetigen Wellengang. Eine neue Herausforderung. Und ich muss es einfach erst einmal aushalten. Zulassen. Keine Scham verspüren, wenn ich einen Menschen so gerne habe, dass ich Angst spüre ich könnte die Verbindung zwischen mir und ihnen verlieren. Dass ich daran schuld sein könnte, wenn ich nicht hart genug an mir arbeite. Weg von dem “was könnte sein, wenn X und Y passieren” zu “Ich lasse es einfach zu. Ich bin im Hier und Jetzt. Und jetzt freue ich mich darauf, diesen Menschen als Teil in meinem Leben zu haben.”
Das Beschreiben von Gefühlen, der offene Umgang damit, hilft mir sehr im Umgang mit anderen Menschen. Ich kann ihnen sagen, wie es mir geht. Welche Gefühle ich spüre, welche Sorgen ich habe, womit ich umgehen oder nicht umgehen kann. Ich kann ihnen sagen, dass ich sie gern habe, dass sie mir fehlen und ich kann ihnen auch sagen, wenn es mir gerade zu viel wird. Weil ich weiß, zwischen mir und ihnen zu unterscheiden. Weil ich weiß, dass nichts Schlimmes passiert, wenn ich offen mit meinen Gefühlen umgehe.
Ich bin jetzt in der Lage, meine Gefühle genau zu benennen. Ihnen den Raum zu geben, den sie beanspruchen, daran muss ich noch arbeiten. Aber ich weiß, dass es besser wird. Immer ein bisschen besser.
Und genauso erhoffe ich mir im Umgang mit anderen Menschen, dass sie mir auch mitteilen können, was in ihnen vorgeht, was bestimmte Aussagen mit ihnen machen, was das Fehlen bestimmter Aussagen stattdessen mit ihnen macht. Was sie für Gefühle spüren. Was sie für Gefühle erwidern können und möchten. Was das Weltgeschehen mit einem macht. Was Verluste mit ihnen machen.
Und ich finde, wir könnten offener und sensibler miteinander umgehen.
From Mizeria With Love
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- Samson
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