Fische und Kinder haben keine Stimme
Über polnische Kindererziehung und einer zweigeteilten Sozialisierung
Zwischenmenschliche Beziehungen waren für mich schon immer ein großes Problem. Wie sie funktionieren, was sie zusammenhält und wie man sie aufbaut. Das hat sich jetzt geändert. Zumindest auf den ersten Blick. Manches aber auch nicht. Noch heute fühle ich mich in einem Raum voller Menschen oft fehl am Platz. Wie ein Fisch in fremden Gewässern.
Meine Mutter hat mir beigebracht: "Die Menschen lassen dich immer im Stich, deine Familie ist immer für dich da". Klare Bindungsrichtung vorgegeben, oder? Das hat sie all die Jahre gesagt. Bis ich mich geoutet habe. So viel dazu.
Auch solche Behauptungen haben ihre Grenzen. Selbst in Polen, mitten in Europa, sind Coming-outs in polnischen Familien alles andere als willkommen. Lieber hört man Sätze wie “Natürlich werde ich Medizin studieren”, “Natürlich werde ich kirchlich heiraten und dir viele Enkelkinder machen” oder “Ihr ward zwar streng zu mir, aber ich bin dankbar für all die Jahre psychische Belastung”. (das letzte Beispiel ist natürlich ein Scherz)
Sätze wie “Mama, ich bin schwul” kommen dann weiter unten auf der Liste. Viel weiter unten. Denn ein Coming-out ist für viele katholisch geprägte Familien ein Widerspruch. Sowohl die Sowjetunion als auch die katholische Kirche haben dazu beigetragen, dass queere Menschen verpönt waren. Während homosexuelle Männer ins Gefängnis kamen, drohte Frauen die Einweisung in die Psychiatrie. Und dann die soziale Ausgrenzung. Vor allem innerhalb der Familie. Bekannte, Mitschüler*innen, vielleicht noch jemand auf der Arbeit, das war ein anderes Thema. Aber in der eigenen Familie?
Was würden die Nachbarn denken...
(Wohlgemerkt, die Meinung der Nachbarn ist wichtiger als die eigene...) Denn das alles hatte auch etwas mit dem sozialen Status zu tun.
Outside the family borders
Als ich wohnungslos wurde, hatte ich niemanden, der mir helfen konnte. Wie auch? Mein Sozialisationsraum war hauptsächlich meine Familie. Dazu gab es ein paar Mitschüler*innen, mit denen ich mich einigermaßen gut verstand. Ein guter Freund hat mich ein paar Wochen bei sich auf der Couch schlafen lassen, während wir beide für das Abitur gebüffelt haben. Da er schon alleine wohnte, war das in Ordnung. Wo war meine Familie in der Zwischenzeit? Eh tam.
In der Schule konnte ich nur selten andere besuchen. Meistens ging das nicht, weil sie weiter weg wohnten und ich kein Geld für die Busfahrkarte hatte. Oder ich musste absurd detaillierte Fragebögen meiner Mutter beantworten. Adresse, ok. Aber Beruf der Eltern, Hobbys, Noten, wie sie sich kleidet. Deutsche Kinder fand meine Mutter übrigens ok, bei nichtdeutschen Kindern hatte sie immer einen sehr rassistischen Spruch parat. Es fehlten also gute Voraussetzungen, um außerfamiliäre Bindungen aufzubauen. Was für Jugendliche eigentlich wichtig ist.
Der Familie war es wichtig, dass ich lerne und gute Noten nach Hause bringe. Mit den Noten hat es irgendwann nicht mehr geklappt, das habe ich immer wieder gespürt. Irgendwann hat es auch nicht mehr geholfen, “noch mehr mentalen Druck aufzubauen”. "Fische und Kinder haben keine Stimme". Ein typisch polnischer Satz aus einer typisch polnischen Familie.
In der Schule wurde Wert darauf gelegt, den Lehrern den nötigen Respekt entgegenzubringen. Ich durfte es nicht wagen, Respektspersonen (auch Ältere) anzublaffen oder ihre Autorität zu untergraben. Auch dann nicht, wenn sie im Unrecht waren oder sich selbst respektlos verhalten haben. Für meine Mitschüler*innen galt ich als Schleimer*in, weird, langweilig. Und ich habe die Schule gehasst. Zu sehen, wie meine Mitschüler*innen sein konnten, wie sie wollten.
Es gab nur eine Sache, die ich mehr gehasst habe, und das war zu Hause. Die Ansprüche an das erstgeborene Kind waren oft anders als an die Geschwister, die nachkamen. Das habe ich in meiner Familie gemerkt, aber auch in anderen polnischen Familien, die ich kannte.
Sobald man in der Lage war, war man für die Care-Arbeit mitverantwortlich. Für Kochen, Putzen und auch für alles, was deine jüngeren Geschwister betraf. Wie sie zur Schule gegangen sind, ob sie etwas zu essen hatten, ob sie ihre Hausaufgaben gemacht haben und ob sie wieder die Unterschriften der Eltern gefälscht haben. Man war für alles mitverantwortlich. Bei mir war das so mit 10 Jahren. Und ich glaube, das hat mir auch eine andere Lebensrealität gegeben als vielen anderen, mit denen ich hier in Deutschland aufgewachsen bin. Denn bei uns war die Familie das Wichtigste. Es gab (angeblich) keine Geheimnisse und jeder war der Kritik der anderen ausgesetzt. Ausnahmslos. Und vor allem: Kinder durften kritisiert werden, hatten aber selbst nichts beizutragen. Das passte auch gut zu den Ideologien der katholischen Kirche: “Du sollst Vater und Mutter ehren”.
Dzieci i ryby głosu nie mają.
Kinder und Fische haben keine Stimme.
Das war einer der prägendsten Sätze in meiner Kindheit.
Out and about
Durch meine Sozialisierung hatte ich immer eine Außenseiter (sic!) position. Ich kannte Serien wie Sex and the City oder Friends nicht, kein DSDS. Ich kannte Kuchenne Rewolucje (polnische Version von “Ramsey’s Kitchen Nightmares” , 13 Posterunek (eine Comedyserie, die rund um ein Polizeipräsidium stattfindet) und polnisches Politkabarett. Ich hatte den Nachnamen, den keiner meiner Klassenlehrkräfte von der 5. bis zur 13. jemals hinbekommen hat auch nur einmal richtig auszusprechen. Und irgendwann kannte ich alle Polenwitze.
Gleichzeitig konnte ich nichts mit Schminken, Jungs, oder Urlauben in westeuropäischen Ländern anfangen. Als Teenager hatten meine Mitschüler*innen irgendwann die ersten iPhones oder Blackberries, konnten Ski fahren oder Surfen, waren die Sommerferien über in Italien, Spanien oder den USA.
Dieses Gefühl des Nichtdazugehören klebt als erwachsener Mensch weiterhin an dir. Und doch versucht du irgendwie mitzuhalten. Am einfachsten geht es mit Wissen im Vergleich zu dem Nachholen von Erfahrungen. Ich denke nicht, dass ich in diesem Leben noch entweder reiten oder ski fahren lernen werde. Und es überhaupt möchte. Denn im Grunde schätze ich es, dass ich mit so vielen unterschiedlichen Einflüssen aufgewachsen bin. Auch wenn die Sozialisierung im Großen und Ganzen deutlich anders verlaufen ist als bei vielen anderen.
It sounds cheesy but it’s a progress
Vor ein paar Jahren hätte ich nicht gedacht, dass es sich so normal anfühlen würde, auf der Bühne zu stehen und an Podcasts teilzunehmen. Die viele Arbeit am eigenen Selbstverständnis und der Aufbau von Selbstvertrauen haben mir vieles erleichtert, was heute fast selbstverständlich erscheint. Vor allem das Vertrauen in die eigene Stimme, in die eigenen Gedanken wieder zu finden, war ein langer Prozess. Aber so cheesy es klingt, es hat mir geholfen, meine Komfortzone Tag für Tag zu verlassen. Im Grunde nichts anderes als Expositionstherapie. Sich seinen Ängsten stellen. Fremde Menschen ansprechen, eigene Veranstaltungen organisieren, Leute auf Instagram anschreiben. Immer und immer wieder. Schritt für Schritt. Natürlich hat es nie perfekt geklappt. Aber das sollte man auch nicht erwarten. Irgendwie wird es schon klappen, wenn man sich selbst so gut behandelt, wie man es noch nie getan hat.
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