Ein Wunsch nach selbstbestimmter Freiheit
Was ich mir bei meinem Coming-out von meiner Familie, meinen Freund*innen und allen anderen gewünscht hätte und was ich mir für alle anderen wünsche
Triggerwarnung: Es werden in diesem Post über mentale & körperliche Gewalt in der Kindheit, Gewaltandrohungen und traumatische Erfahrungen in Bezug auf Coming Out, Queerfeindlichkeit gesprochen.
Es ist jetzt 12 Jahre her, dass ich mich zum ersten Mal geoutet habe. Damals war ich 20 Jahre alt. Laut einer Studie von Lambda NRW aus dem Jahr 2008 lag ich damit im Durchschnitt mit knapp 70% der Jugendlichen, die sich in Deutschland zwischen 15 und 21 Jahren geoutet haben. Die Zahlen mögen heute wieder ganz anders aussehen, aber ich habe keine Daten mehr speziell für Deutschland gefunden. Wir können aber davon ausgehen, dass sich Jugendliche immer früher als queer outen. Was an sich eine schöne Entwicklung ist. Denn es zeigt, dass diese Menschen sich sicher genug fühlen, um neben dem inneren Coming-out, der eigenen Selbsterkenntnis und Selbstakzeptanz, auch ein Stück weit nach außen zu kommunizieren, was das für sie bedeutet.
Wenn ich daran zurückdenke, ist es immer noch eines der schmerzhaftesten und einschneidendsten Erlebnisse meines Lebens. (Leider waren es sehr viele über einen sehr langen Zeitraum, aber das würde den Rahmen dieses Newsletters sprengen.) Kurz gesagt: Die Beziehung zu meiner Familie, die sowohl in Deutschland als auch in Polen lebte, war während meiner Kindheit und Jugend ein Konglomerat aus unausgesprochenen Problemen, viel psychischer und physischer Gewalt, transgenerationalen Traumata, destruktiven Machtverhältnissen und undurchsichtigem Geltungsbedürfnis.
Nicht nur der Druck, es als polnisches Kind, das zum Teil in Deutschland aufwuchs, zu etwas zu bringen, als “gut integriertes Ausländerkind” zu gelten, wurde mir von Anfang an auferlegt. Dazu gehörte auch, nicht aufzufallen. Weder durch einen Akzent, der mir schon früh durch Logopädie-Sitzungen abtrainiert wurde, noch durch allzu abgetragene Kleidung, die ich in der Schule nicht zu häufig tragen dürfte, die aber natürlich trotzdem keine Markenklamotten waren und ich auf dem Gymnasium sowieso auffiel. Natürlich fiel ich durch meinen Nachnamen auf, und jede Lehrkraft hatte die wildeste Fantasie, meinen Nachnamen zu verunstalten, anstatt zu lernen, wie man ihn richtig ausspricht. Ansonsten war ich die meiste Zeit ziemlich unauffällig. Ich hatte nicht viele Freund*innen, denn oft fällt man in der Highschool dadurch auf, dass man einfach kein Geld für die meisten Aktivitäten seiner Mitschüler*innen hat, dass man keine Filme im Kino sehen kann und dass man keinen iPod hat, um überall die neuesten Alben hören zu können.
In der Oberstufe habe ich einen sehr guten Freund kennengelernt, mit dem ich viel Zeit verbracht habe. Das war eigentlich das erste Mal, dass ich wirklich mit dem Thema Queerness in Berührung kam und was es bedeutet, geoutet zu sein. Denn er war offen schwul. Durch die gemeinsame Zeit mit ihm, der bereits eine eigene Wohnung hatte, habe ich viel über ihn und auch über mich gelernt. Durch die Gespräche ergab vieles plötzlich einen erschreckenden Sinn. In der Schule waren das keine Themen, die irgendwie einen (respektvollen) Platz gefunden haben. Es wurde zwar mal im Leistungskurs Englisch erwähnt, wenn es um die Realverfilmung von Shakespeares "Der Kaufmann von Venedig" ging, oder auch mal im Biologieunterricht, aber ein Rahmen wurde nie gegeben. Mein Freund war der erste Mensch, der mir gespiegelt hat, dass ich nicht hetero sein kann. Er begründete das damals, glaube ich, “mit der Art und Weise, wie über Männer und Frauen geredet wurde” und wo er meine Augen im Unterricht und im Alltag öfter hinschauen sah. Wahrscheinlich hatte ich meinen ersten “Crush” bei einem meiner weiblichen Lehrer, aber das kann ich nicht mehr mit Sicherheit sagen.
Aber es war das erste Mal, dass ich romantische Gefühle für einen Menschen entwickeln konnte. Das war schon ein gewaltiger Schritt für jemanden, für den das in den 20 Jahren zuvor kein Thema gewesen war. Das mit der Nicht-Binarität kam dann ein paar Jahre später und vielleicht erzähle ich irgendwann mal davon.
Aber auch ein Schritt, der für mich eine große Veränderung in meinem Leben bedeuten würde. Ich hatte viele Fragen in mir, viel Unsicherheit und fühlte mich orientierungslos. Ich hätte mir einen Ort gewünscht, an dem man Fragen zu sexueller und geschlechtlicher Vielfalt stellen kann. Einen geschützten, respektvollen Ort, vielleicht sogar online. Ich hätte mir so etwas wie das Queer-Lexikon mit einem Kummerkasten oder einem anonymen Chat gewünscht, das erst ein Jahr nach meinem ersten Coming-out gegründet wurde.
Denn ich wusste nicht, wie das Thema in meiner Familie ankommen würde. Natürlich hatte ich in einer Art Vorbereitung mit minutiös geplanten Frageketten bei den einzelnen Familienmitgliedern abgeklärt, wie sie zu Queerness stehen. Keiner reagierte heftig, war genervt oder angewidert von dem Thema. Da konnte ich meine Bedenken erst einmal zurückstellen. Bis ich auf die Idee kam, mit meiner Mutter darüber zu sprechen.
Es war ein Tag im Januar, nachmittags. Wie üblich holte ich meine Mutter von der Arbeit ab, nahm ihre Einkäufe in die Hand und fuhr mit ihr im Bus nach Hause. Auf dem Weg zum Parkplatz fand ich die Worte, um ihr zu sagen, dass ich queer bin. “Erzähl mir nichts, ich bin müde und will nach Hause”, war ihre erste Reaktion. Auf dem Weg nach Hause haben wir uns nicht unterhalten. Ich wusste nicht, was passieren würde.
Zu Hause angekommen, fing meine Mutter an, mich auf das Übelste zu beschimpfen, ihren hasserfüllten Ekel über homosexuelle Menschen zum Ausdruck zu bringen und wie ich auf die Idee käme, zu “denen” zu gehören. Es gab viele Sätze, die ich nicht wiedergeben möchte, die mich aber in Verbindung mit all dem, was ich in diesem Heim erlebt hatte, noch einmal innerlich zerrissen. Meine Mutter wollte mit mir nichts mehr zu tun haben. Endgültig. Die nächsten Tage saß sie morgens vor ihrer Schicht und danach stundenlang in meinem Zimmer und teilte mir ihren Hass, ihren Ekel auf mich mit. Wie abartig ich sei. Was die katholische Kirche von Menschen wie mir halte. Dass ich eine Schande für diese Familie sei, schlimm genug mit den schlechten Noten. Und dann auch noch das. Ich solle dem Ganzen ein Ende setzen, mich umbringen, damit ich nicht noch mehr Schande und Scham über die Familie bringe. Um Zuspruch zu bekommen, rief sie meine Tante in Polen an und erzählte ihr, dass ich mich vor ihr geoutet hätte. Ich war wieder völlig sprachlos.
Keine Woche hatte ich diese Achterbahnfahrt der Gefühle ausgehalten, da sagte ich zu meinem Schulfreund, der eine eigene Wohnung hatte. “Komm zu mir, sofort. Ich habe ein Sofa, da kannst du schlafen.” Und so packte ich meine Sachen, zum Glück war ich viel früher in der Wohnung als meine Mutter, die an diesem Tag Spätschicht hatte. Mein Freund kam zur Wohnung, wir bestellten ein Taxi und fuhren zu ihm. Ich weiß nicht mehr, wie wir die nächsten Stunden verbracht haben, bis meiner Mutter klar wurde, dass ich nicht mehr zurückkommen würde.
Unglücklicherweise wusste sie, wo er wohnte und klingelte noch am selben Abend. Wir saßen zusammen auf dem Sofa und warteten, bis das Klingeln aufhörte. Die nächsten Tage in der Schule waren angespannt, da ich mitten in den Abiturprüfungen steckte. Ich versuchte, mir Hilfe zu holen, indem ich nach jeder Unterrichtsstunde mit meinen Leistungskurslehrerkräften sprach. Versuchte zu erklären, was passiert war. Und war wieder sprachlos, als ich Entschuldigungen hörte, aber auch Desinteresse. Dass sie sich nicht wirklich mit dem Thema auseinandersetzen wollten. Die einzige Frage, die mir die Schule in den letzten zwei Monaten dort gestellt hat, war, welchen Wohnort ich in mein Abiturzeugnis schreiben soll. Also habe ich im März 2012 mein Abitur gemacht und bin dann zu Bekannten nach Essen gezogen, bis ich aufgrund einer Studienplatzzusage nach Köln gezogen bin, wo ich immer noch lebe.
Was mich am meisten erschüttert hat, war nicht nur die heftige Reaktion meiner Mutter. Ich kann mir nicht vorstellen, was in ihr vorgegangen sein muss, dass sie diese Sätze zu ihrem eigenen Kind gesagt hat. Wenn man bedenkt, was sich 20 Jahre zuvor in diesem Haushalt abgespielt hat, mit all der seelischen und körperlichen Gewalt gegen mich, hätte es mich eigentlich nicht wundern dürfen. Ich kann das mit einer gewissen Ironie sagen, weil ich als Kind bzw. junger Erwachsener keine andere Realität kannte, nicht wusste, wie andere Familien mit ihren Kindern umgehen. Wenn ich weiter nach Gründen suchen würde, würde ich anfangen, ihr Verhalten entschuldigen zu wollen. Um dieses Thema abzuschließen, brauche ich keine Gründe. Was ich mir gewünscht hätte, wäre eine Entschuldigung. Aber sie hat sich bis heute nicht entschuldigt. Inzwischen ist der Kontakt völlig abgebrochen.
Aber auch das Desinteresse meiner Lehrkräfte, die mich zum Teil schon seit meiner Schulzeit kannten. Vielleicht war es kein reines Desinteresse, vielleicht auch Überforderung. Aber ich hätte mir zumindest unterstützende Worte erhofft. Ein “Du bist nicht allein damit”.
Jahre später habe ich das Thema oft verdrängt. Im Studium habe ich kaum darüber gesprochen, weil es oft noch viele übergriffige Fragen gab, voller Stereotypen gegenüber queeren Menschen. In vielen Freundschaften habe ich mich nicht wohl dabei gefühlt, darüber zu sprechen. Weil ich immer das Gefühl hatte, ich muss den anderen beweisen, dass ich queer bin. Dass ich queer genug bin. Und diese Fragen negierten das, wofür queere Lebensrealitäten eigentlich stehen: die unendlichen Möglichkeiten innerhalb von Spektren, in denen wir individuell entscheiden, wer wir sind.
Was mir wirklich geholfen hat, war die Aufarbeitung dieses (und aller anderen) Ereignisse im Rahmen meiner Traumatherapie. Wie damals konnte ich in einer der ersten Sitzungen in einem sehr neutralen Ton über das Geschehene sprechen. Was in der ersten Sitzung meine Therapeutin schon einen Moment sprachlos machte, denn auch für sie war es eine besondere Situation, wenn ein Mensch von so vielen traumatischen Ereignissen erzählt, dies aber in einem neutralen Ton als würde es gerade um das Wetter gehen. Denn ich hatte mich emotional davon abgekapselt, was bei Traumata häufig der Fall ist, weil das Gehirn einen davor schützen will, durch die Erinnerung an traumatische Ereignisse wieder in einen solchen traumatischen Zustand zu geraten. Ich selbst habe mich anfangs sehr dagegen gesträubt, mich näher damit zu beschäftigen. Es hätte gereicht, die Erlebnisse auszusprechen, dachte ich damals. Denn die Erinnerung an das, was ich damals empfunden habe, hat auch in mir eine Barriere geöffnet, einen Selbstschutz, einen Sarkophag für mein eigenes Tschernobyl, damit all die traumatischen Ereignisse nicht mehr nach außen dringen können. Auch ich hatte den Ekel mir selbst gegenüber internalisiert. Der Ekel und den gesamten Hass meiner Existenz, den ich von meiner Familie erhalten habe. Dabei wollte ich nach außen hin nur “normal” sein. Unauffällig. Aber die unendliche Geduld meiner Therapeutin hat mich dazu gebracht, über all meine Erlebnisse zu sprechen, die eigenen Gefühle zu validieren und mich selbst zu akzeptieren. Ein Prozess, der sich über mehrere Jahre und einem zweiten Coming Out durchzog.
Quo vaditis, Coming Out-Geschichten?
Noch heute spüre ich eine tiefe Traurigkeit wie eine dunkle, schwarze Wolke in meiner Brust, dort wo meine Schlüsselbeine aufeinander treffen, wenn ich an das Erlebte (oder andere solcher Erinnerungen) denke. Diese Wolke will mir die Luft zum Atmen nehmen, drückt gegen meine Lungenflügel und füllt manchmal meine Augen mit Tränen. Aber das ist in Ordnung. Das sind die Erfahrungen, die ich leider machen musste und die ich niemandem wünsche.
Umso mehr hoffe ich, dass immer weniger Menschen diese Erfahrung machen müssen. Und dabei möchte ich nicht mit dem Finger auf irgendwelche Institutionen oder Systeme zeigen, die vermeintlich dafür verantwortlich sind. Wir haben es bei Queerfeindlichkeit, wie auch bei anderen Diskriminierungsebenen, immer mit mehreren Faktoren zu tun, die ineinander greifen können und deren Verwobenheit wir verstehen müssen. Gleichzeitig sind die Coming-outs, die in den Medien gezeigt werden, meist weiße Coming-outs von nicht behinderten, cis-geschlechtlichen Menschen. Es geht mir weniger darum, dass wir Coming Outs um der Coming Outs willen brauchen. Auch wenn ich hier darüber schreiben und mit Freund*innen darüber sprechen kann, ist es kein Thema, über das ich mit allen Menschen die ganze Zeit und überall sprechen möchte. Denn meine Queerness ist für mich etwas Besonderes, etwas, das mich zu der Person macht, die ich bin. Mit meiner Entscheidung, im Deutschen keine Pronomen zu verwenden, falle ich natürlich auf. Das soll aber keine Einladung an alle sein, mich danach zu fragen.
Ich denke, es ist eine sehr individuelle Frage, wie Menschen mit ihrem Coming-out und ihrer Queerness umgehen wollen und können. Es ist auch etwas, was mich oder andere potentiell in Gefahr bringen kann, aber nicht sollte. Ich stimme dem Publizisten & Podcaster Zuher Jazmati in seinem Kommentar in der Siegessäule zu, der das “Inviting-in” als antirassistische Alternative zum Coming-out vorstellt, wenn er schreibt: “Es ist eine bewusste Einladung an bestimmte Menschen, zuzuhören. Dies geschieht nicht aus einer Verteidigungsposition heraus, wie es beim Coming-out oft der Fall ist, sondern aus einer Wertschätzung der eigenen queeren Identität und des Gegenübers”. Gleichzeitig erkenne ich an, dass ich mir als weißer Mensch diese Alternative nicht eigenständig aneignen kann, aber zumindest respektvoll wertschätze und dies auch in meinen eigenen Gedankenprozesse als Möglichkeit für andere Menschen sehe und akzeptiere.
Wir brauchen ein Umdenken, wie wir mit queeren Lebensrealitäten in unserem eigenen Umfeld und als Gesellschaft umgehen. Wie wir mit unserem eigenen Coming-out umgehen. Dass wir uns wohl fühlen, frei entscheiden zu können, mit wem wir darüber sprechen und in welchem Ausmaß. Wem wir Räume für (öffentliche) Coming-Outs geben, wem wir in privaten Räumen die Möglichkeit eines Coming-Outs bzw. Inviting-Ins geben. Wer dafür gefeiert wird und warum andere nicht. Wie wir persönlich mit Coming Outs umgehen und dass wir niemanden dazu zwingen, darüber zu sprechen.
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