Brich mir mein Herz, damit ich weiß, wie das Leben funktioniert
Die Angst vor neuen Lebenserfahrungen, die unendliche Suche nach Resonanzen und dem Ausbrechen aus therapeutischen Settings
“Haben Sie mal an einen Aufenthalt in einer Klinik nachgedacht?”
Das war eine der Fragen, die mir meine Therapeutin in den fast sechs Jahren Therapie immer wieder gestellt hat. Ob ich nicht doch mit einer Psychiater*in über medikamentöse Unterstützung sprechen wolle. Erst einmal nur reden.
Immer wieder, nicht zu oft, aber gut platziert. Ohne viel Nachdruck. Wie eine Seifenblase, die schwerelos und fast unmerklich durch den Raum schwebte. Dann sah sie mich schweigend an und wartete. Inzwischen verstand ich, dass sie dann einfach freundlich lächelte. Ohne etwas anderes zu implizieren (irgendwann verstand ich die Mimik besser, aber auch das war viel Arbeit). Manchmal schlug sie ein Bein über das andere und wippte ganz leicht mit dem Fuß, der in der Luft schwebte. Sie gab mir den Raum zurück, den sie kurz betreten hatte, um mir eine Frage zu stellen.
Das ist mir manchmal passiert, nachdem ich über eines meiner vielen Probleme gesprochen habe. In einer akribisch aufgebauten Argumentationskette dargelegt. Und wieder in dasselbe Loch gefallen. Weil ich nicht weiter kam. Weil ich das Leben da draußen nicht verstehe. Weil ich die Menschen nicht verstehe, den sogenannten Habitus, von dem so viele kluge Menschen sprechen. Die Chiffren, die Sprichwörter, die Metaphern, die Das-sagt-man-halt-so-Sätze.
Gleichzeitig war meine Antwort immer:
”Auf keinen Fall.” Jedes Mal.
Jahrelang habe ich mich gesträubt, psychotherapeutische Hilfe noch mal in Anspruch zu nehmen. Nachdem drei Psychotherapeuten und eine Life Coachin (eine “Freundin”, die ihre Hilfe anbieten wollte und im Endeffekt mich als Testobjekt für Methoden benutzt hat, die mit Menschen mit meiner Lebensgeschichte niemals hätten benutzt werden sollen) einen ziemlichen Schaden angerichtet haben, habe ich es ein nächstes Mal probiert. Dabei hatte ich geglaubt, dass ich es bisher doch auch gut alleine geschafft habe. Ich brauchte niemanden. So brachte es mir auch meine Familie bei. Am Ende steht man immer alleine da. Dieser Satz hat sich in mein Gehirn eingebrannt.
Ich war schon kaputt, was sollte mir die nächste Therapeutin noch helfen? So habe ich immer über mich gesprochen.
Kaputt, wie eine kaputte Uhr, ein kaputter Stuhl oder eine kaputte Tür. So kaputt, dass man nichts mehr damit machen kann. Reif für den Sperrmüll. Das sollte der letzte Versuch sein.
Diesmal war ich vorbereitet. Besser als je zuvor. Ich kannte meine Diagnosen, meine Symptome, konnte sie fachlich beschreiben. Inzwischen hatte ich mir Fachbücher besorgt. Ich wollte keinen Raum für Verletzungen lassen. Das therapeutische Setting war für mich zum Minenfeld geworden. Und ich wollte jede mögliche Gefahr entschärfen. Meine neue Therapeutin sah ich als Gefahrenquelle. Und darauf wollte ich vorbereitet sein.
Sie hat mich relativ am Anfang schon gefragt, ob ich nicht an Medikamente oder an einen Klinikaufenthalt gedacht habe. Zum einen, um mich zu unterstützen, und zum anderen, damit ich aus traumatischen Situationen herauskomme, damit ich mich einmal ganz abschotten kann.
“Nein”, war auch schon damals meine Antwort. “Ich kriege das schon alleine hin. Ich brauche nur jemanden, der mir hilft, diesen Kopf wieder zum funktionieren zu bringen.” Ich habe mir nur helfen lassen, weil es sonst keine andere Möglichkeit in meinem Kopf war. Dabei war die Therapie bereits ein Zugeständnis meines Versagens. Ich bin zu schwach gewesen um es alleine hinzubekommen. Dabei kamen die Sätze meiner Familie aus der Vergangenheit hoch. “Zur Therapie gehen nur Gest*rte.” Das hatte sich in mir eingebrannt bis ins Mark.
Durch die sogenannte Blume gesagt: Es war für mich psychisch schon sehr gefährlich geworden und es brauchte eine Lösung. Eine endgültige Verbesserung meines psychischen Zustandes. Ein Fallschirm, der mir im freien Fall zugeworfen wird.
Gleichzeitig sträubt sich jede Faser meines Körpers, wenn ich nur daran denke, vor einer Klinik stehen zu müssen. Solange ich noch gehen und atmen kann, werde ich nicht freiwillig ein solches Gebäude betreten. Es war schon schwer genug, einer Person mit vermeintlicher Fachexpertise zu glauben. Wie sollte es dann mit einer ganzen Klinik funktionieren?
In den folgenden Jahren gelang es meiner Therapeutin, eine Beziehung zu mir aufzubauen. Zu kitten, was alle anderen zerstört haben. Damit ich überhaupt anfangen konnte, meine Traumata zu verarbeiten. Und alles, was sich danach noch auftat.
An meiner Haltung zu Medikamenten und Klinik hat sich bis heute wenig geändert. Wobei sich meine Argumente geändert haben. Inzwischen sind meine Bedenken wegen der Nebenwirkungen der Medikamente größer geworden. Nebenwirkungen, die auf den Beipackzetteln wirklich nebensächlich aufgelistet sind. Also immer noch ein großer Bogen um das Thema.
Die Klinik, das war für mich eine Festung, ein Fort Knox. Ein Ort, umgeben von einer unüberwindbaren Mauer. Gleichzeitig sorgte die Mauer dafür, dass es eine Welt in einer Welt war. Mit eigenen Regeln, eigenen Abläufen, den eigenen Bewohner*innen.
Ich glaube bis heute, dass mir eine solche Welt in einer Welt nicht helfen kann. Das habe ich meiner Therapeutin erklärt. Sie akzeptierte meine Antwort. Und gleichzeitig verstand ich, warum sie nicht verstand, warum ich es mir nach ihrer eigenen Aussage so extrem schwer tun würde. Denn ich erlebe täglich Überforderungen, Trigger (im wahrsten Sinne des Wortes), bin regelmäßig erschöpft von meinen Symptomen und Maskingversuchen, damit niemand in meinem Alltag erfährt, was in mir vorgeht. Warum sollte ich denn für Probleme oder Schwierigkeiten sorgen?
Aber ich habe ihr jedes Mal gesagt, dass ich mich dieser Angst stellen muss. Ich muss mich dieser Angst jeden Tag stellen. Diese Angst vor Dingen, die mich nächtelang wach halten. Weil alle es irgendwie schaffen, nur ich nicht.
Weil ich nicht weiß, wie Freund*innenschaften funktionieren. Wo sie anfangen, wo sie aufhören, wo sie repariert werden müssen, wo sie endgültig kaputt sind.
Weil ich nicht weiß, wie Smalltalk funktioniert. Ich weiß nicht, welche Themen als Smalltalk gelten, und die Frage nach dem Beruf langweilt mich meistens. Denn Berufe sind meist verschachtelte Titel, es sei denn, sie sind künstlerisch oder gehen in eine bestimmte Richtung wie Gesundheitspflege oder Lebensrettung. Und ich möchte lieber direkt wissen, wann Menschen das letzte Mal vor Freude geweint haben und wie sich das für sie angefühlt hat. Und solche Fragen kann man nicht auf der Arbeit stellen. Oder auf Partys. Das ist zumindest meine Erfahrung mit ähnlichen Fragen.
Ich muss lernen meine Grenzen kommunizieren zu können. Ich muss mich schützen können vor Menschen da draußen. Egal, wie nah sie an mir dran sind. Vor allem, wenn sie ganz nah an mir dran sind. Ich muss lernen, Gewalt mir gegenüber nicht zulassen zu dürfen. Als unnormal anzusehen.
Ich muss lernen, im Alltag meine negativen Coping-Mechanismen in den Griff kriegen. Ich muss lernen, meine Gefühle auszuhalten. Alle Gefühle. Nicht nur Wut und Trauer und Scham. Auch diese immens überfordernde Liebe, ein Gefühl, was mir am meisten Angst macht. Weil ich nicht weiß, was ich mit ihr anfangen soll, wenn ich nicht weiß wohin mit ihr. Weil es so intensiv ist, dass ich rastlos nachts durch die Straßen renne. Ich muss lernen mit der Angst umzugehen, dass mir mein Herz gebrochen wird. Und damit meine ich nicht nur aus romantischer Liebe heraus.
Neue Erfahrungen machen mir Angst, gleichzeitig brauche ich sie, damit ich verstehe, wie das Leben da draußen funktioniert.
Manche Dinge passieren häufiger und ich kann mir wie auf einem Reißbrett geläufige “Tatsachen” notieren. Beispielsweise, wenn Menschen sagen “Lass doch auf einen Kaffee treffen”. Ich habe sehr lange gebraucht um zu verstehen, dass nicht alle Menschen das ernst meinen. Manchmal sagt man das anscheinend einfach so. Warum, verstehe ich noch nicht. Zumindest nicht logisch. Denn wenn ich sowas sagen würde, dann meine ich das absolut ernst und wenn es nicht übertrieben wirken würde, würde ich direkt nach dem Aussprechen diese Satzes meinen Kalender rausholen und nach einem Termin schauen.
Auch dass ich selbst Metaphern und geflügelte Worte benutzen kann, auch wenn ich nicht ganz verstehe, warum sie geflügelt sind und nicht etwas anderes, das ist etwas, womit ich mich erst seit kurzem wohl fühle.
Andere Dinge müssen sich bei mir noch einschleifen, wie man das so im Deutschen sagt. Routinierte Aussagen, die alle in etwa gleich meinen und es dennoch keinen Konsens darüber gibt:
Wo sind die Unterschiede bei “Bis gleich”, “Bis Später” oder auch “Bis Nachher”? Wann fängt das eine an, wann hört das andere auf und wo liegt ein dazwischen? Ich erinnere mich an einen Nachrichtenverlauf mit einer Freundin. Wir wollten telefonieren und sie schrieb mir “Ich bin gerade durch die Tür, du kannst gleich gerne anrufen.”
In meinem Kopf tat sich eine achtspurige Autobahn auf um alle potentiellen Möglichkeiten aufzulegen. Ich raste alle Autobahnen in Lichtgeschwindigkeit durch um zu verstehen, was meine Freundin gerade gesagt hatte. Und vor allem: Was sie damit meinte.
Nach 20 Minuten fragte ich sie nochmal per Nachricht. “Was genau meinst du mit gleich? Wann fängt gleich an? Ich verstehe es leider nicht und traue mich nicht anzurufen.”
Und meine Freundin, sie wusste bereits Bescheid über meine Gedankengänge, schrieb nur zurück “Ach Samson, ich wusste irgendwie schon, dass du genau diese Frage stellen würdest. Entschuldige bitte, dass ich das nicht genauer erklärt habe. Ruf gerne jetzt an. Ich freu mich.”
Keine Angst haben zu müssen, mehr diese Fragen zu stellen. Keine Angst haben müssen zu erklären, was in einem vorgeht. Keine Angst haben zu müssen, man macht damit ein Fass auf und versteht nicht, um welches Fass es sich hier eigentlich handelt und wer es aufmacht und ob es auch zugemacht wird.
Keine Angst zu haben, dass ein Nein direkt ein Ende bedeutet. Verstehen, wie ein Miteinander funktioniert und wie man Grenzen und Bedürfnisse gegenseitig respektiert.
Keine Angst zu haben, die eigenen Gefühle zu offenbaren. Keine Angst zu haben, die eigene Diagnose(n) zu offenbaren. Keine Angst haben müssen, wenn man jemandem sagt “Ich mag dich, einfach so.”
Keine Angst zu haben, den neuen Namen in die Insta-Bio zu schreiben.
Ich weiß, dass es nicht immer klappen wird. Dass es manchmal gar nicht klappen wird. Ich weiß, dass ich immer wieder verletzt werde. Ich weiß, ich werde Fehler machen.
Ich weiß, dass ich immer wieder Schmerzen aushalten muss. Dass mein Herz immer wieder gebrochen wird. Aber ich weiß, dass es nicht für immer sein wird und dass es irgendwann besser wird. Und dass es vielleicht nicht immer so weh tut.
Aber ich weiß, dass es da draußen Menschen gibt, die Geduld mit mir haben. Und die mir zeigen, wie das Leben da draußen funktioniert. Oder zumindest ein Zusammenleben. Dass sie mir mit Offenheit begegnen.
Und dass ich lernen kann. Und dass es irgendwann nicht mehr so schwer sein wird, Teil von allem zu sein. Dazuzugehören.
From Mizeria With Love
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- Samson
Danke für diese Einblicke in die Tiefen deiner selbst. Der Text hat mich wirklich berührt.
danke für jedes deiner worte. ♥️