Bis ich euch endlich in meine Arme schließen kann
Über internalisierte Queerfeindlichkeit und die ständige Unsicherheit der eigenen Existenz
“Was darf ich denn als Rufnamen eintragen?” fragte die Person am Empfang einer Klinik. Sie schaute mich dabei erwartungsvoll an und sprach in einem freundlichen Ton.
Meine Antwort darauf kam wie auf Autopilot.
“Samson.”
Und buchstabierte ihn.
Niemand verzog das Gesicht, es gab keine peinliche Pause, es ging einfach weiter und ich wurde ins Wartezimmer geleitet. Als hätten wir übers Wetter gesprochen.
In meinem Kopf ging währenddessen ein Feuerwerk los. Tausende Gedanken rasten über die Nervenbahnen meines Gehirns, ich merkte wie mein Herz anfing gegen meinen Brustkorb zu donnern. Die Muskeln in meinem Rücken zogen sich zusammen, drückten sich an meine Wirbelsäule und meine Rippenbögen, mein Körper wollte in einen Trauma-Modus überspringen. Autopilot an, doch wo nur war der verdammte richtige Schalter?
Ich war reizüberflutet von den neuen Eindrücken, neue Räume, neue Gänge, neue Menschen. Den Gerüchen, ein untypisch unbedeutender Geruch in einer solchen Einrichtung. Kaum Desinfektionsmittel in der Luft. Alle rochen nach Geld. Wie sich in dem Moment meine Kleidung an mir anfühlte obwohl ich sie so bedacht ausgewählt hatte. Wohl fühlen und gender-affirming. Alles fühlte sich falsch an. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich in der Zeit zurück gereist.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
Eine Kette um meinen Hals, seit ich denken kann. Sie bewegt sich von selbst, zieht und zerrt und zupft an mir. Sagt mir, wie ich mich verhalten soll. Eine Kette mit nur fünf schweren Gliedern, zieht an mir von jeder Seite meines Halses. Alle wollen mir gleichzeitig zeigen, dass ihr Weg der richtige ist. Der Beste. Der Sicherste. Der Weg mit dem geringsten Schmerzanteil.
In immer wiederkehrender Reihenfolge, jedes Glied versagt und reicht eben dieses Versagen des Moments an das nächste Kettenglied, in der Hoffnung, dass die Kette nicht zerspringt. Immer schneller, immer kürzere Abstände.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, ….
Aber ich war nicht allein. Wir sollten gleich ins Besprechungszimmer geführt werden. Wer weiß, wie viele Minuten kurzes Verschnaufen bleiben würden. Wie schnell diese Minuten an mir vorbei rasen würden. Ich musste mein Draußen-Ich aufrecht gehalten werden. Mein Soziales-Ich. Mein Nicht-PTBS-Ich. Mein Nicht-Autistisches-Ich. Mein Freundliches-Ich. Mein Zugängliches-Ich.
So tun, als wäre ich ein neurotypischer Mensch, der gerade eine ganz normale Frage gestellt bekommen hat. Ich wollte nicht auffallen, nicht in diesem Moment, nicht heute. Vor allem nicht deswegen. Heute kein Trauma, heute keine Neurodivergenz. Heute keiner Vergangenheit begegnen.
Ich spielte meine Nervosität runter, von dem, was gerade passiert ist, denn gleichzeitig spürte ich einen beißenden Hass in meiner Brust. “Wie weird bist du eigentlich?” höre ich in meinem Kopf eine Stimme anstimmen.
Meine Begleitung sollte nichts davon erfahren. Es reichte, dass die Person dabei war. Es war ein absolutes Geschenk. Sonst hätte ich den Termin gar nicht erst wahrgenommen.
Stattdessen blubberte ich was über die Einrichtung des Raumes. Statt vieler Wartezimmer, denen ich begegnet bin, war dieses vergleichsweise dunkel eingerichtet. Neben zwei Wänden voller Fenster, entstand mit den zwei weiteren, dunkel gefärbten Wänden ein Raum. Tiefe schwarze Sessel neben durchsichtigen Designerstühlen aus Plastik.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
Fight, Flight, Freeze,…
Mein Coming out, sowohl das erste als queer als auch das zweite als nonbinär, habe ich sehr lange vor mir hergeschoben. Labels, von denen ich immer dachte, sie hätten eine Bedeutung. Für mich. Das haben sie aber auch nur im Umgang mit anderen. Andere wollen wissen was ich bin. Aus Neugier, aus Berichterstattungsgründen, aus “Wir brauchen jetzt hier eine Diagnose für den Gutachter”-Gründen, aus “Kannst-du-was-zu-diesem-Awarenesstag-sagen-Gründen”, aus “Ist-deine-Story-relevant-für-unseren-Contentkalender”-Gründen, aus Dating-Absichten, aus WEISS-GOTT-WAS-FÜR-GRÜNDEN. Als wäre ich ohne diese Label nicht ich.
Deshalb spreche ich sie aus, schiebe sie vor mir her. Schiebe es vor mir her obwohl ich es aufhalten müsste. Aufhalten sollte. Weswegen eigentlich nochmal?
Vor allem deswegen, weil mir ein Leben lang beigebracht worden ist, wie falsch es sei. Wie falsch ich sei. Wieso sollte ich da noch eins drauf setzen?
Ich hatte kein schönes Coming Out. Ich hatte ein Coming Out, was mein ganzes bisheriges Leben verändern sollte. Was mein bisheriges Leben, so wackelig wie es auf den Beinen stand, einen Tritt ins Knie verpasste und ich zu Boden ging. Nie war das gut genug, was ich geschafft habe. Der ständige Vergleich mit anderen, die meine Familie nicht ein mal mit Namen kannte. Die da draußen, die deutschen Kinder, welche Noten hatten sie?
Das ständige Hineinzwängen in Strukturen, die ich nicht verstand.
Immer wieder Sonntag, der Weg zur Kirche. Das Gebet, die Hostie, die Kommunion, die erste Beichte, die Firmung. “Damit du kirchlich heiraten kannst, das ist so schön und so wichtig.”
Wichtig für wen? Schön für wen?
Wer ich wirklich war, wen ich in mir selbst entdeckte, bis dahin reichte die familiäre Liebe nicht.
Ab dann war mein Guthaben aufgebraucht. Keine familiäre Liebe mehr übrig. Nicht gut genug in der Schule, nicht dankbar genug für deine Familie und jetzt auch noch queer?
Ab dann war alles anders. So theatralisch wie wahr es auch war. Ab da war ich nicht mehr sicher in ihrer Nähe. Es war davor schon nie sicher für mich, doch als ich es gewagt hatte, etwas auszusprechen, was in die Welt meiner polnisch, katholisch geprägten Familie eine der höchsten Sünden darstellte, hatte ich mit ihnen gebrochen.
Und ich glaubte ihnen. Ich glaubte ihnen aufs Wort, dass ich ein schlechter Mensch sei und das deshalb all diese Dinge passierten. All diese Gewalt, all dieses Schlechte, all diese Einsamkeit. Weil ich ein schlechter Mensch sei. Ihre Geschichten machten absolut Sinn in meinem Kopf. Warum sollte meine Familie lügen?
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop…
Als ich mich vor meinem Kontaktabbruch das letzte Mal vor meiner Mutter ein zweites Mal outete, am Telefon, sagte sie einfach:
“OK”
Zwei Buchstaben, eine Tonalität, so gefüllt mit banaler Leere, dass mir schlecht wurde. Mein Herz presste sich gegen meine Rippen, der Schmerz drückte sich in meine Lungenflügel und hielt mich davon ab in Tränen auszubrechen.
Über 25 Jahre Gewalt und Ablehnung, reduziert auf zwei kleine Buchstaben.
Ich sprach danach nie wieder ein Wort mit ihr. Auch nicht nach all ihren hasserfüllten Nachrichten danach, wie undankbar ich wäre. Was sie alles für mich aufgeopfert hat, wie viel sie gearbeitet hat, damit ich ein gutes Leben in Deutschland habe.
Ich hätte sie gerne angerufen um in den Hörer zu brüllen: “War das alles der Preis dafür? Dass ich nicht dankbar genug war? Dass ich queer geworden bin? Dass du mir alles abgesprochen hast? War das für dich die Vorbereitung da draußen für diese Welt?….” Meine Gedanken brechen irgendwann ab. Zu viel scheint banal angesichts dessen zu sein, wenn es nicht in einem Fernseh-Format, einem Tiktok-Reel oder auf ein paar Instagram-Kacheln passiert.
Banal, weil es nicht auf einem Bildschirm stattfindet, ein Brot-und-Spiele für andere, die sich dieses Stück Leben anschauen wollen um danach wieder den nächsten Streaming-Dienst einzuschalten.
Entertainment ja, Anteilnahme “Schaust du noch?”
Jeder Brief aus Polen, der danach kam, landete in einer Schublade, um Jahre später durch den Aktenvernichter gejagt zu werden. Hab das Video, was ich dabei drehte, wieder gelöscht.
Als ich das letzte Mal in Polen war, stand ich abseits der Straßenkreuzung vor dem Hochhaus mit Wellblech umringt, wo ich offiziell gemeldet bin. Ich starrte hoch ins 8. Stockwerk, zum Küchenfenster. Vielleicht lief gerade das Radio, wenn jemand zuhause war. Der gleiche Sender, unverändert seit ich denken kann. Ich stand mitten auf der Kreuzung und vergoss tausende Tränen, bitterlich um eine Vergangenheit, die ich mir erhofft hatte zu haben. Und um eine Zukunft ohne jegliche Familie.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
Fight, Flight, Freeze, Fawn, Flop.
…
“Liebe die Namensänderung. You gooo! ” schrieb eine Freundin wenige Minuten, nachdem ich meinen neuen Namen auf Instagram ergänzt hatte. Tränen fielen leise auf den Display meines Bildschirms. Leise. Die Stille in meiner Wohnung sollte von meiner verwirrten Überforderung nicht gestört werden.
Es folgten die nächsten Stunden und Tage danach Nachrichten über die verschiedensten Kanäle.
“Wie schön der Name klingt.”, “Er passt so sehr zu Dir.”, “Richtig süß”,
“Ich speichere Dich jetzt so in meinem Handy ab, ok?”
Die Kettenglieder wurden kalt in diesem Moment. All das Surren verstummte, mein Gehirn wusste nicht in diesen Momenten, was die richtige, was die sicherste Entscheidung war.
Wie Sprachnachrichten an mich beginnen mit “Hallo Samson”, “Dear Samson”, “Guten Morgen Samson”
Ich schwanke seitdem, unsicher erneut auf den eigenen Beinen, unsicher über das, was mein Mund in diesen Momenten sagt, unsicher ob meine immense Angst durch meine Augen durchschimmert.
Wie ich nach den Lesungen zum Signiertisch gehe und sage “Für Samson, bitte.”
Wie ich befreundeten Autor*innen wieder begegne, nach ihren Lesungen zum Signiertisch gehe und sage “Für Samson, bitte.”
Alle nickten, lächelten und schrieben.
“Für Samson.”
Wie der Dude aus meinem Gym nach einem gemeinsamen Gespräch an der Theke mit anderen kurze Zeit später vorsichtig an meinen Trainingsbereich herangetreten ist und wartete, bis ich die Kopfhörer abgenommen hatte.
“Sorry, ich hatte vorhin gehört, dass du einen neuen Namen hast, wollte aber sicher gehen, dass ich ihn richtig verstanden habe. Samson, richtig?”
Ich gab ihm die Hand und sagte “Ja, ich bin jetzt Samson.”
Wie die Geschäftsführerin vom Gym in einer Satzpause auf mich zu kommt und fragt: “Möchtest du, dass wir deinen Namen auch im System ändern oder möchtest du damit warten bis deine Mastek durch ist?”
Die Kettenglieder schweigen.
Fühlt sich so Liebe an?
Ich zähle die Wochen, die Tage, die Stunden, bis es soweit ist, und meine Last mir von meinem Brustkorb genommen wird. Und ich euch endlich in meine Arme schließen kann. Mit all meiner Liebe. Mit all der Angst, die gleichzeitig mitschwingt. Denn die Kettenglieder sind immer noch da.
From Mizeria With Love
In diesem Newsletter dreht sich vieles um teils persönliche Erfahrungen und wie es ist, migrantisch, queer und mental krank zu sein. Und allem dazwischen. Alles, was immer noch zu unsichtbar scheint.
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- Samson
Was für ein berührender Text! 🫶🏼 Danke, dass du den mit uns geteilt hast!
danke dass du schreibst und danke dass du das veröffentlicht hast 😭❤️